Menschelnde Männersentimentalität

Ein Gespräch über die „Neue Wache“ mit dem Architekturkritiker Tilmann Buddensieg  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

taz: Herr Buddensieg, morgen wird Schinkels „Neue Wache“ zur „Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“, wie es schön ausführlich heißt. Die Gestaltung wurde oktroyiert – ungeachtet eines anhaltenden Dissenses über die Aufstellung der Pietà von Käthe Kollwitz.

Buddensieg: Wichtig ist die Frage: Wie setzen wir ein Kunstwerk, ein Bildwerk ein, um einen möglichst großen Konsens der Auffassungen zu gewinnen? Da muß ich sagen, daß ich dem Bundeskanzler insoweit folgen kann, daß er eben ein Bildwerk sucht wie die Pietà der Käthe Kollwitz, die eine verbindliche, auch für das sogenannte einfache Volk verständliche Bildersprache hat. Die trauernde Mutter und der tote Sohn sind etwas, das jeder versteht. Diese Überlegung des Bundeskanzlers finde ich von großer Legitimität und Verständlichkeit.

Der Dissens fängt dort an, wo der Historiker Reinhart Koselleck das Problem aufwirft: Was für Tote das eigentlich sind nach 1945? Sind das dieselben Toten wie die, die in Verdun gefallen sind, oder die, die in den Freiheitskriegen gefallen sind? Oder ist das eine ganz neue Art von Toten, die mit dem Begriff „Opfer“ nicht erfaßt werden kann? Und wird mit dem Bild der trauernden Mutter eigentlich das Wesentliche verfehlt?

Koselleck hat gesagt, die Pietà mit ihrer ausgesprochen christlichen Symbolik schließe ganze Opfergruppen aus, etwa die Juden ...

Ja, völlig richtig. Und er hat gesagt, daß die Mütter genauso vergast und zerbombt worden sind wie alle anderen auch. Insofern ist die in der Heimat gebliebene und zu Hause trauernde Mutter völlig verfehlt. Das ist aber auch vielfach gesagt worden. Nun hat damals in dieser Anhörung dieser Staatsminister Pfeifer mit sehr bewegten Worten erklärt, daß es doch darum gehe, ein Bild zu finden, das die Unantastbarkeit des Menschen selbst in den schlimmsten Katastrophen symbolisiert. Und er ist der Meinung, daß dieses Bildwerk die Überlebenskraft der Humanität und des Allgemein-Menschlichen aufzeige. Das ist ein starkes Argument.

Aber läßt sich eine solche Wirkung heute noch durch eine Rückkehr zum Figurativen, zu einem Denkmalsbegriff des 19. Jahrhunderts erzielen? Schon Tessenow hat ja eine sehr abstrakte Gedenkstätte geschaffen.

Die Rückkehr zum Figurativen ist ein Rückschritt auf eine Ebene in der Entwicklung der Kunst, die als unwiederbringlich vergangen angesehen werden muß – als eine Kunst, die von einem Humanitätsideal ausgeht, das im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden ist. Jetzt kommen wir zu dem entscheidenden Punkt, der in der Debatte bisher noch nicht genügend angesprochen worden ist. Mit dieser Herrichtung der Neuen Wache beseitigt man die Spuren des Tessenow- Raumes, bis auf den Fußboden, man beseitigt die Nazi-Umwandlung des Tessenow-Gedenkraumes, und man beseitigt die Spuren der DDR-Gedächtnisstätte. Der ursprüngliche Raum von Schinkel war die erste Stufe, Tessenow die zweite, Hitler die dritte, die DDR die vierte, und jetzt macht man eine fünfte und tilgt die Spuren der älteren Geschichte dieses Baus. Und zwar tilgt man sie mit dem Ziel – und das ist ja auch die Botschaft der Kollwitz – einen geschichtslosen Raum des Allgemein-Menschlichen zu schaffen. So muß man das, glaube ich, nennen. Ein Raum, in dem sich sozusagen alle Teile der Bevölkerung wiederfinden können. Das ist unmöglich an diesem Ort! Das kann man irgendwo auf der Rheinaue bei Bonn tun, aber nicht an diesem Ort, der zu den geschichtsträchtigsten in Deutschland überhaupt gehört.

Das zweite ist, daß die Neue Wache ein Siegesdenkmal für die Befreiungskriege gewesen ist. Wenn man das aktueller formuliert: das Zeugnis des Widerstandes der Deutschen gegen eine Diktatur, gegen die napoleonische Diktatur. Man muß sich diese Aktualität einmal klarmachen. Zu dieser Anlage gehörte ein Figurenschmuck der Umgebung mit den beiden Generälen Gneisenau und Scharnhorst, der sich fortsetzt mit den Generälen gegenüber am Kronprinzessinnenpalais, mit den Brückenskulpturen, die dann hätten fortgesetzt werden sollen in dem figuralen Schmuck des Alten Museums und des Lustgartens.

Werfen diese Generäle nicht historische Probleme auf? Der Ostberliner Publizist Friedrich Dieckmann hat die Befürchtung geäußert, daß die historische Differenz zwischen den Freiheitskriegen einerseits und den deutschen Eroberungskriegen andererseits hinter einer simplen Militärsymbolik verschwinden könnte.

Selbst der Präsident der Berliner Akademie der Künste, Walter Jens, spricht bei Scharnhorst von dem Strategen und der Militärglorifikation, die da vor der Neuen Wache steht. Er müßte es besser wissen. Zu wünschen wäre die Rückführung solcher Symbole in das Denken auch der allgemeinen Bevölkerung, damit klarwird, was Scharnhorst für eine wichtige Reformgestalt im großen Komplex der Steinschen Reformen war, die ja die Grundlage der Nation der Deutschen sind. Das muß man sich immer wieder klarmachen. In diesen Steinschen Reformen gehörte Scharnhorst mit zu den radikalsten Antreibern und wurde von der Opposition der Generäle und des ostelbischen Adels immer wieder heftig angefeindet. Und es ist unglaublich, daß der Direktor des Deutschen Historischen Museums, Herr Stölzl, sagt, seine Statue können wir dort nicht wieder aufstellen, weil sie niemand mehr versteht. Es ist seine Aufgabe, solche wirklich leuchtenden Identifikationsfiguren und Vorbilder in der deutschen Geschichte wieder verständlich zu machen.

Es gäbe die Möglichkeit einer Rekonstruktion dieses Denkmals der deutschen Befreiungskriege mit den Generälen davor und einer künstlerischen Neugestaltung ohne die Kollwitz-Figur, und zwar von jemandem, der auch die Geschichte dieses Denkmals reflektiert, der die Stellung dieses Bildes der Toten des Zweiten Weltkrieges in seinem geschichtlichen Kontext reflektiert.

Damit plädieren Sie für eine zeitgenössische Ausgestaltung der Neuen Wache als Gedenkstätte?

Richtig. Eine zeitgenössische Lösung, die die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges reflektiert und versucht, dem ein Bild zu geben. Und die es dann auch noch vermag, an diesem Ort die historische Sequenz kriegerischen Handelns in der deutschen Geschichte anschaulich zu machen – das wäre die Ideallösung.

Welche – deutschen, internationalen – Künstler könnten Sie sich dafür vorstellen?

Heinz Mack. Ulrich Rückriem. Ich weiß nicht, ob zum Beispiel Gerhard Merz so etwas machen kann. Ich halte das für gar nicht ausgeschlossen. Aber der würde immer nein sagen. Walter De Maria wäre einer – ein ganz schwieriger Künstler. Richard Serra oder Sol LeWitt, auch Donald Judd ist zum Beispiel ein Künstler, der in Frage kommt. Also, wir kriegen schnell ein Dutzend Künstler zusammen, deren vorliegendes Werk erwarten läßt, daß sie Antworten finden. Die Hälfte davon würde nein sagen.

Eine zeitgenössische Lösung würde also eher eine konzeptionelle Gestaltung verlangen?

Eine konzeptionelle und eine minimalistische, ja. So eine Lösung müßte dann vielleicht im Kontrast zu dieser preußischen Mythologie aus der Schinkelzeit gemacht werden, aber nicht, indem man sie abräumt, indem man sie beseitigt und damit Leitfiguren der deutschen Geschichte einfach opfert.

Welche Rolle kann eine derartige Gedächtnisstätte im wiedervereinigten Berlin, im Berlin der großen Umbaupläne spielen?

Bestimmte Forderungen, die man an sie hätte – und auch Hoffnungen –, die kann man formulieren. Die erste wäre: Sie muß die historische Realität dieses Ortes, seit dem Zeughaus, seit der preußischen Monarchie über die Freiheitskriege bis zu der vielfach verhängnisvollen Entwicklung der deutschen Geschichte mitreflektieren. Sie muß die Zeugnisse dieser Geschichte, die dort noch sind, respektieren. Sie muß auf dem heutigen Stand der bildenden Künste sein. Sie muß das strukturell völlig andere der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gegenüber den Militärkatastrophen der älteren deutschen Geschichte erkennbar machen.

Es wird dann – wie es ja auch bei dem Vietnam-Denkmal in Washington passiert ist – einen Sturm der Entrüstung geben. Niemand wird es verstehen, es wird einen Prozeß der Aneignung brauchen, von dem man hoffen kann, daß er im Laufe eines Jahrzehnts gelingt. In einem Prozeß der Aneignung – und nicht in so einem Husarenritt mit trauernder Mutter und totem Sohn, das kapiert jeder.

Mit diesem relativ billigen Konsens, der im Grunde keine intellektuelle Anstrengung und auch kein Bewußtsein für heute und für den Zweiten Weltkrieg fördert, sondern alles begräbt unter dieser allgemein-menschlichen Männersentimentalität. Da sind wir uns doch hoffentlich einig.

Also gegen die Schaffung eines solchen geschichtslosen Raumes ...

Das ist mein Hauptvorwurf gegen die Kohlsche Version dieser Gedenkstätte.

Tilmann Buddensieg, 1928 in Berlin geboren, lehrte ab 1968 ebendort Kunstgeschichte und ist seit 1978 Professor in Bonn. Soeben ist von ihm ein neues Buch mit Beiträgen zur Berliner Architekturgeschichte erschienen. Buddensieg nimmt darin unter anderem auch streitbar zur Schloß-Debatte Stellung („Die Schloßlüge“). „Berliner Labyrinth. Preußische Raster“, Wagenbach, 142 Seiten, zahlreiche Abb., 25 DM