Kant für Kids

Josteinn Gaarders Geschichte der Philosophie für junge Leute im besten philosophischen Alter  ■ Von Thomas
Fechner-Smarsly

Nützliche Annäherungen an die europäische Geistesgeschichte gibt es in Hülle und Fülle. Viele von ihnen sind von unbestrittenem geistigen Gehalt und von profunder Kenntnis der Materie, doch gebricht es ihnen nicht selten an einem gewissen Unterhaltungswert sowie an der allgemeinverständlichen Handreichung. Um nicht zu sagen: Diese Werke sind nur allzu oft von einem solchen Vorsatz gänzlich unbeschwert. Aber selbst wenn sie über die philosophische Hintertreppe der geistvollen Anekdote kommen, so eignen sie sich doch nur in den seltensten Fällen für ein Publikum, das zwar die Grenze zur Volljährigkeit noch nicht überschritten hat, sich aber trotz (wegen?) seiner Jugendlichkeit bereits mit den sogenannten großen Fragen beschäftigt. Fälschlich wird ja oft ein fortgeschrittenes Alter als unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis philosophischer Fragen angesehen. Wobei gerne vergessen wird, daß – wie der Verfasser des hier angezeigten Buches einmal bemerkte – allein „die Fähigkeit, uns zu wundern, das einzige [ist], das wir brauchen, um gute Philosophen zu werden“.

Diesem Mangel endlich abzuhelfen, galt sein löblicher Versuch. Bei dem fabelhaften Werke handelt es sich, kurz gesagt, um eine Geschichte der Philosophie in Briefen, gerichtet an ein vierzehnjähriges Mädchen. Leider war es uns nicht möglich, etwas Näheres über seinen Autor in Erfahrung zu bringen, von dem es heißt, daß er sehr zurückgezogen auf einer kleinen Insel lebe, über kein Telefon verfüge und überhaupt nur äußerst ungern Besuch empfange. (Philosophen sind ja mitunter etwas schwierige Zeitgenossen.)

Allerdings stellte sich zu unserem Erstaunen heraus, daß es die Hauptperson des Buches, Sofie Amundsen, wirklich gibt. Nach einigem Bemühen gelang es uns, sie in Oslo ausfindig zu machen und für ein Telefongespräch mit der taz zu gewinnen, welches wir im folgenden wortgetreu wiedergeben.

taz: Frau Amundsen, äh, liebe Sofie, kannst du uns einmal kurz beschreiben, wie alles anfing?

Sofie: Ja also, das war so: Eines Tages – ich kam gerade von der Schule nach Hause und hatte mich mit meiner Freundin Jorunn über Roboter und Computer unterhalten –, da lag dieser komische Brief im Postkasten. Sonst bekomme ich eigentlich nie Briefe, außer von meinem Vater, der ist Kapitän auf einem Tanker und viel auf Reisen. Ja, und da steckte ein kleiner Zettel in dem Kuvert, auf dem stand nur eine Frage: Wer bist du? Kein Absender, kein Name. Das hat mich schon ein bißchen gewundert. Aber so richtig verwirrt war ich erst, als noch mehr Briefe mit solchen Fragen kamen.

Was für Fragen waren das?

Zum Beispiel: Woher kommt die Welt? Oder: Gibt es einen Urstoff, aus dem alles gemacht ist? Auf einem stand sogar: Warum sind Legosteine das genialste Spielzeug der Welt? Das hatte übrigens mit Demokrit zu tun, wißt ihr, der war auf den Gedanken verfallen, die ganze Welt müßte aus winzigen Teilchen zusammengesetzt sein, wie Legosteine eben und diese Atome...

Ah ja! Aber hast du dich nicht gefragt, wer dir diese Briefe geschickt haben könnte? Freunde oder so, die sich einen Spaß daraus machten?

Doch, das auch. Aber ich habe dann ja bald herausbekommen, von wem die stammten. Irgendwie fiel mir auf, daß ich mich das noch gar nicht gefragt hatte...

Was?

Woher die Welt kommt? Habt ihr Euch das noch nie gefragt?

Äh, doch doch, tun wir fast täglich, gehört sozusagen zu unserem Metier.

Dann werdet ihr sicher verstehen, daß ich erst recht neugierig wurde, als eines Tages ein dicker Brief kam, drei Bögen Schreibmaschinenpapier, eng beschrieben und mit einer Büroklammer zusammengeheftet. Was ist Philosophie? hieß die Überschrift, und da erklärte mir Alberto – so heißt er nämlich: Alberto Knox, komischer Name, nicht wahr? – also, er schrieb, daß sich die Leute überall mit mehr oder minder zufälligen Dingen beschäftigen, daß es aber große Fragen gebe, deren Beantwortung wichtig sei für alle. So begann unsere erste Philosophiestunde. Von da an kamen regelmäßig Briefe. Und es war gar nicht so leicht, sie vor meiner Mutter geheimzuhalten. Erwachsene sind da ja merkwürdig – sie finden die Welt so schrecklich selbstverständlich...

Und dieser Alberto Knox – was hat er dir über die Welt erklärt?

Na ja, alles, die ganze Philosophiegeschichte, von der Antike angefangen. Platon und Aristoteles zum Beispiel. Platon sucht nach dem Ewigen und Unveränderlichen, nach den Ideen hinter der Natur und der Gesellschaft. Aristoteles dagegen war Systematiker, er wollte partout herausfinden, was alles in der Natur zusammengehört. Alberto meinte einmal zu mir: „An dem Tag, an dem du etwas sieht, was du nicht klassifizieren kannst, erleidest du einen Schock. Wenn du zum Beispiel ein kleines Dingsbums entdecktest, von dem du nicht mit Sicherheit sagen könntest, ob es zum Pflanzenreich, zum Tierreich oder zum Mineralreich gehört – ja, ich glaube, du würdest nicht wagen, es anzufassen.“ Wahrscheinlich hat er recht. Doch im Grunde ging es immer um die Frage, was sind Ideen und was ist die Wirklichkeit. Übrigens auch in diesem Buch.

Und Alberto ist nur in Briefen mit dir in Kontakt getreten?

Nein, das war nur am Anfang. Einmal hat er mir sogar eine Videocassette von der Akropolis geschickt. Da ist er herumgelaufen und hat mir alles über das antike Athen erklärt. Und da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Später schrieb ich ihm selbst einen Brief und lud ihn zum Kaffee ein. Aber er sagte, daß das noch nicht ginge, und schickte statt dessen seinen Hund Hermes mit den Briefen zu mir. Getroffen habe ich ihn dann eines Tages in der Marienkirche. Das heißt, es war eigentlich mitten in der Nacht, genau gesagt morgens um vier. Er hatte sich als Mönch verkleidet und wollte mir das Mittelalter näherbringen. Ist ihm auch ziemlich gut gelungen – es war alles ziemlich geheimnisvoll und aufregend. Er hat mir alles über Augustin erzählt und wie der Platons Ideen-Philosphie ins Christentum hinübergerettet hat, so wie dann später Thomas von Aquin und ein paar andere Aristoteles. Augustin lebte sozusagen morgens um vier, Thomas von Aquin aber erst mittags. Alberto hatte oft solche Ideen, wie er mir Sachen besser erklären könnte.

Hatte er da einen Trick?

Ein Trick war es nicht. Er sagte nur immer, daß es darauf ankäme herauszufinden, was für ein Projekt ein Philosoph habe. Dann fragte ich ihn immer nach Beispielen. Ich glaube, ich habe ihn manchmal ziemlich genervt damit. Aber er hatte wirklich viel Geduld – wie ein richtiger Philosoph. Auf jeden Fall hat er mir beigebracht, daß der Streit um die Welt lange Zeit eigentlich derselbe war.

So? Wer stritt sich denn mit wem und worum?

Die Rationalisten und die Empiristen. Platon und Aristoteles. Descartes und Hume. Hegel und Kierkegaard und so weiter, die eben, die glauben, daß ohne Wahrnehmung kein Bewußtsein existiert, und die anderen, die nur ihrer Vernunft trauen. Na ja, aber ganz so einfach war das dann doch nicht. Zum Beispiel mit Kant. Der war ja Empiriker und Metaphysiker – beides gleichzeitig. Und er war der Meinung, daß, wenn wir die Gültigkeit von Naturgesetzen beweisen wollen, wir in Wirklichkeit über Gesetze der menschlichen Erkenntnis reden. Außerdem hat er sich überlegt, was richtig ist.

Die Empirie oder die Metaphysik?

Quatsch! Was die Menschen tun sollen! Ethik und so. Aber da waren Alberto und ich schon ziemlich mit Hilde beschäftigt – und damit, was wir tun sollten. Diese Hilde Möller Knag kriegte doch immer Postkarten von ihrem Vater, der im Libanon als Major bei den UNO-Truppen war. An meine Adresse! Obwohl ich gar keine Hilde kannte. Na ja, das Ganze entwickelte sich reichlich mysteriös, und Alberto Knox wurde auch immer nervöser. Er schien den Typ zu kennen. Und ich fand das auch reichlich komisch, daß dieser Major Albert Knag hieß und immerzu diese Botschaften schickte – und dabei einiges über uns zu wissen schien. Irgendwann behauptete er sogar, er hätte uns nur erfunden, und daß es uns gar nicht gäbe außer in seiner Phantasie. Arme Sofie, schrieb er einmal ziemlich unverschämt an Hilde, sie weiß noch nichts über die wahren Zusammenhänge. Aber dann, wir hatten gerade Hegels kritisches Denken hinter uns und sogar Freuds Unbewußtes, da dämmerte es mir so langsam. Alberto und ich hatten dieses Buch in einem Schaufenster entdeckt – „Sofies Welt“ –, und jetzt heckten wir einen Geheimplan aus, um herauszubekommen, wer hier in Wirklichkeit...

An dieser Stelle wurde plötzlich die Verbindung unterbrochen, und es gelang uns trotz mehrmaliger Versuche nicht, sie wiederherzustellen. Später erfuhren wir, daß Sofie Amundsen kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag zusammen mit ihrem Philosophielehrer von einem Gartenfest verschwunden war und seither vermißt wird. Etwa zur gleichen Zeit gingen Gerüchte um über ein Manuskript, das sich im Besitz einer gewissen Hilde Möller Knag befinden sollte und den Titel „Sofies Welt“ trug.

Wir werden unsere LeserInnen natürlich in Kenntnis setzen, sobald wir neue Informationen in dieser mysteriösen Angelegenheit erhalten. Einstweilen empfehlen wir zum allgemeinen Studium der Sachlage das Buch:

Josteinn Gaarder: „Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie.“ Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, 614 Seiten, 39.80 DM