Der lange Abschied vom Paradies

Der gute Stern von Mercedes leuchtet nicht mehr über dem schwäbischen Wohlstand, die Krise des Daimler-Konzerns erfaßt die ganze Region, sogar der Glaube an das Auto wankt  ■ Aus Stuttgart Erwin Single

Hinter Tor 8 ist die Welt noch in Ordnung. Schon frühmorgens treffen die ersten Autonarren im Sindelfinger Kundencenter von Mercedes-Benz ein, stattlich herausgeputzt zumeist, im Janker etwa oder im Allerweltsdreß von Boss, die Gattin rechts eingehakt, Kind und Kegel hinter sich herzerrend. Es ist ein ganz besonderer Tag, fast wie Geburtstag, Ostern und Weihnachten zusammen.

In dem schlichten Glaspavillon reihen sich täglich 500 verzückte Mercedes-Nostalgiker in eine der Schlangen ein und reichen stolz ihren Bestellschein über den Tresen. Wie beim Arbeitsamt mit einer dreistelligen Wartenummer abgespeist, verdrückt man im Restaurant schnell noch ein paar Weißwürste und kippt ein Pils, bevor eine säuselnde Frauenstimme die Nummern jener Kunden herunterleiert, die sich zur „Abholung ihrer Fahrzeugpapiere“ wieder an dem Schalter einfinden dürfen. Dort endlich gibt es den Schlüssel zum Glück. Ganz betört marschiert die Familie in die Werkshalle, um ihren neues Mercedes persönlich in Empfang zu nehmen. „Des ischt halt doch das beschte Auto der Welt, gell?“ wird der Nachbar noch kurz gefragt. Der nickt stumm mit dem Kopf, dann geht es mit dem blankpolierten Schlitten ab auf die Autobahn. Heiligs Blechle!

Sogar das Sterben ist teurer geworden

In Untertürkheim sieht die Welt schon anders aus. Die Männerrunde, die sich am frühen Nachmittag vor dem Kiosk beim Motorenwerk auf ein Bier versammelt hat, ist ganz aufgebracht. „Jetzt brennt der Kittel“, sagt Karl, was auf schwäbisch so viel heißt wie „'s langt“. Knapp acht Stunden Arbeit in den Knochen, zeigt er auf das sich langsam drehende Herrschaftssymbol. Auch ihm hat der „gute Stern auf allen Straßen“ jahrelang den Weg gewiesen. Vorbei. Kostendrückerei, Milliardenverluste, Entlassungen, das ist es, was Karl und seinen Kollegen heute auf den Magen schlägt. Die Arbeitsproduktivität ist gestiegen, aber was nützt das schon? Willi ist seinen Arbeitsplatz los, wie tausend andere in den Vorruhestand abgeschoben. „Wenn die Stern- Taler spärlicher fallen“, meint er und nimmt einen kräftigen Schluck aus der Pulle, „wird es hier bald zappenduster.“

Stuttgart ist die Hauptstadt von Mercedes. Hier schlägt das Herz der Motoren. Geraten sie außer Takt, ist die schwäbische Herrlichkeit schnell dahin. Denn wie einst die württembergischen Könige herrscht das Daimler-Imperium über die Region. Rund 75.000 beschäftigt das Unternehmen in der Region. Geht es Mercedes gut, geht es auch dem Land gut, fließen die Steuermilliarden. So stieg Sindelfingen in den 80er Jahren zur reichsten Stadt Deutschlands auf und konnte sich sogar Zebrastreifen aus Carrara-Marmor leisten. Auch der Stuttgarter Raum, wo sich die Mercedes-Werke wie eine Kette von Untertürkheim bis Esslingen am Neckar entlangziehen, erlebte einen einzigen Boom; die Zulieferindustrie blühte auf, überall säte der dreizackige Stern Wohlstand und Sicherheit.

Doch dann kam der Tag im Frühjahr letzten Jahres, an dem Mercedes' schwerste Fahrt begann und an den sich die Beschäftigten nur ungern erinnern. An diesem Tag erfuhren sie das ganze Ausmaß der Krise ihres Unternehmens. Mister Mercedes Werner Niefer verkündete, daß die goldenen Zeiten nun vorbei seien: Zum ersten Mal in der fast 100jährigen Firmengeschichte sollten Arbeitsplätze abgebaut werden. Im Winter wurde erstmals Kurzarbeit angeordnet. Da wurde auch dem letzten klar, „daß du nicht mehr auf Lebzeiten beim Daimler bist wie beim Staat“, sagt der Betriebsrat Dieter Gerlach.

Bis vor kurzem liebte noch alles die Luxuskreuzer aus Stuttgart. Der deutsche Vater, Opa und Sohn, die Ölscheichs, unzählige Staats- und Regierungschefs steuern einen Mercedes, nicht zu vergessen der Papst, der sich mit einer besonders schweren, gepanzerten Karosse herumkutschieren läßt. Mercedes, Mercedes und nichts als Mercedes. Die Lieferzeiten betrugen mehr als ein Jahr, die Verkäufer teilten den Kunden die Autos nach Plan zu. Selbst die Firmenparkplätze standen voll: 80.000 Jahreswagen, ein Achtel der Produktion, gingen allein an die Belegschaft, selbstverständlich verbilligt und steuerbegünstigt.

Die Irrfahrt des Konzerns endete in roten Zahlen. Der Absatz brach drastisch ein, allein im ersten Halbjahr 1993 sackten die Zulassungzahlen in Deutschland um ein Drittel ab. Auf den Halden sammelten sich 150.000 unverkaufte Limousinen, die gepanzerte und spritfressende S-Klasse erntete Hohn und Spott. Selbst bei Produktivität und Fertigungstiefe holte sich die Nobelmarke die rote Laterne. Nur noch 15.000 Jahreswagen finden Abnehmer im Betrieb, wer will sich jetzt noch in Schulden stürzen?

Daß es so nicht weitergegen konnte, war den Mercedes-Lenkern schon lange klar. Erst seit Mai führt Helmut Werner die Geschicke der schwäbischen Autobauer. „Es ist kein Geheimnis“, so der Mercedes-Chef, „daß anhaltender Erfolg auch satt macht. Deshalb haben wir begonnen, Organisation und Abläufe unbürokratischer und effizienter zu machen.“ Nach der Ferienruhe ließ Werner die Bombe platzen: Unter dem Druck der miesen Verkaufszahlen werden bis Ende nächsten Jahres weitere 14.000 Arbeitsplätze verschwunden sein, die freiwilligen Sozialleistungen werden rigoros gekürzt. Bereits im letzten Jahr fielen 15.000 Stellen weg, in diesem Jahr werden es ebenfalls rund 10.000 sein. Doch das ist nicht alles: Kostensenkung, Globalisierung der Produktion, kontinuierlicher Verbesserungsprozeß („KVP“) heißen die neuen Abmagerungsrezepte. „Bis Ende des Jahrhunderts“, glaubt Betriebsrat Gerd Rathgeb, „werden 20 bis 30 Prozent der Produktionskapazitäten verschwunden sein.“

Auch ohne diese Horrorvision bereitet die Magersucht des Autokonzerns den Stuttgarter Stadtvätern bereits schlaflose Nächte. Es war wie die Vertreibung aus dem Paradies, als die Daimler-Zentrale dem Chefzimmer des Rathauses die neuesten Gewerbesteuer-Berechnungen durchtelefonierte. 1990 fing es an, da zahlte Daimler auf einen Schlag 140 Millionen Mark weniger an Steuern. Ein mordsmäßiges Defizit türmt sich seither auf.

„Die Stadt ist zur Zeit finanziell nahezu handlungsunfähig und besitzt keinerlei Spielräume für neue Investitionen“, bringt Stadtkämmerer Lang die Finanzlage auf den Punkt. Neben 22 Parkhäusern bietet die Stadt immerhin 21 Museen, 29 Galerien und 26 Theaterstätten auf. Bei Schulden von 4.278 Mark pro Einwohner schnallt sie ihren Gürtel und den ihrer Bürger um ein Loch enger. In drei Jahren sollen 540 Millionen Mark gespart werden. Das Ergebnis der Rechenoperation: In der Tiefgarage unter dem Rathaus kostet das Parken mehr, in der Verwaltung werden 973,5 Stellen gestrichen, Grundsteuer und kommunale Abwassergebühren steigen, die Zuschüsse für Bäder und Theater werden gekürzt, nicht einmal die Straßenkehrer bleiben verschont. Selbst das Sterben in der Landeshauptstadt wird immer teurer: Für eine Erdbestattung müssen die Hinterbliebenen heute 2.240 Mark hinblättern, vor fünf Jahren kostete das Begräbnis noch gut ein Drittel weniger.

Karl Marx wird wieder gebraucht

Die Bedrohung ahnt auch die Kassiererin des Nanz-Ladens. Während sie die Preise für Brezeln, die Zeitung und ein paar Würstchen eintippt, schimpft sie mit der Welt. „Die machen hier alles kaputt, unseren schönen Wohlstand. Sechs Mark dreißig, bitte.“ Wer? „Na, wer schon, die in Bonn und droben in Möhringen.“ Fluchen und standhalten ist ihre Devise. „Ein bißchen“, räumt sie ein, „haben hier alle über ihre Verhältnisse gelebt.“

In der Daimler-Konzernzentrale denken die Mangager um den Strategen Edzard Reuter derweil über einen Ausweg aus der Krise nach. Die neue C-Klasse, in der Belegschaft skeptisch „Rettungswagen“ tituliert, soll erst einmal die Geschäfte ins richtige Lot bringen. Aber die Geschäftsleitung hat einen schweren Stand. Auf der letzten Betriebsversammlung in Untertürkheim mußte sie sich schallend auslachen lassen, als sie ihre Verkaufsoptionen von weltweit 700.000 Einheiten präsentierte – derzeit sind es nicht einmal eine halbe Million. Die Sonntagsreden der Bosse will keiner mehr hören. Ein Kleinwagen von Mercedes? Viel zu spät! „Ihr habt die falsche Modellpolitik gemacht, ihr habt die Entwicklung verschlafen“, tönte es dem Management unter dem Jubel der Belegschaft entgegen. „Statt auf Öko-Autos zu setzen“, wettern die Kollegen, „haben die lieber Trabrennen und Golfturniere gesponsert.“

Im Betriebsrat sind einige Kollegen schon einen Schritt weiter: „Das Auto ist ein Auslaufmodell, daran ändern auch die Fun-Varianten nichts“, stellt Tom Adler nüchtern fest. „Wenn es bei uns besser läuft, geht es auf Kosten der anderen Autohersteller“, analysiert Dieter Gerlach das Nullsummenspiel. Stuttgart gegen Ingolstadt und Ingolstadt gegen Regensburg, Mercedes gegen Audi und Audi gegen BMW. „Die kämpfen ihren Kampf, wir wursteln für uns. Bingo.“

Im Betriebsratsbüro der Svenska Kugellagerfabriken (SKF), einem der Zulieferer an der Stuttgarter Pragstraße, hat Helmut Brandt das Bild von Karl Marx mit einem Plakat gegen den Flaschengeist Alkohol verhängt. Doch wenn es so weitergeht, kann er den bärtigen Philosophen demnächst wieder hervorholen. Von den 4.000 Leuten, die der Wälzlager- betrieb einmal hatte, sind gerade noch 274 übriggeblieben. Ein Teil des Werksgeländes ist an die Polizei verkauft; ins Hallenbad, einst Stolz des Unternehmens, zog eine Schreinerei ein. „Spätestens in zwei Jahren ist jeder zweite Platz weg“, da ist sich Brandt sicher, „das Werk hat keine Zukunftschancen.“ Auch er hat den Glauben an das Auto längst verloren. „Wir brachen nicht noch mehr Blechkisten, die die Umwelt verpesten, aber wir haben keine Alternative.“ Die Zulieferer werden wie Zitronen ausgequetscht; in andere Sparten und Produkte wird aber nicht investiert. An der Pragstraße können die Arbeiter ein Lied davon singen. Die Firma Eckhard hat dichtgemacht, Mahle und Wizemann sind ebenfalls schon so gut wie weg vom Fenster.

„Die Krise ist zu groß, als daß wir uns auf die alten Industrien zurückziehen könnten“, weiß auch Gerhard Zambelli, neuer Bezirksleiter der IG Metall in Stuttgart. „Hier hat man sich zu lange zurückgelehnt.“ Er hat nicht unrecht, denn beim Niedergang der Autobranche im mittleren Neckarraum handelt es sich wohl um die bestprognostizierte Krise der Gegenwart. 35.000 Arbeitsplätze, so hatte das Münchner IMU-Institut im Auftrag der Gewerkschaft bereits 1988 ermittelt, würden dem Strukturwandel in der Region bis 1995 zum Opfer fallen. Doch niemand wollte die Zahlen zur Kenntnis nehmen. Heute sind alle etwas kleinlauter geworden. „Die Krise kommt zu spät“, ist Wirtschaftsminister Dieter Spöri (SPD) überzeugt, „in dem zehnjährigen Boom sind die Innovationskräfte in sich zusammengesackt.“ Für ihn hat die Vertreibung aus dem Paradies einen Vorteil: die „eingeübte Veränderungsfeindlichkeit“ zu überwinden. Doch Mercedes-Betriebsrat Dieter Gerlach weiß: „Jeder stirbt erst mal für sich allein.“