Zankapfel Neue Wache: Morgen wird sie in Betrieb genom- men. Jenseits aller Symbolik bleibt die Frage, wer wem warum und wie gedenken kann, darf und soll. Aus Berlin Anita Kugler

Wem gehört dieser Tag?

Morgen wird getrauert. Vom Volk. Schließlich heißt seit 1952 der zweite Sonntag vor dem 1. Advent nicht einfach nur so „Volkstrauertag“. Auf dem Soldatenfriedhof in Halbe, einem Nest südöstlich von Berlin, und auf einem Gräberfeld in der Nähe der Seelower Höhen will auch das rechtsradikale Volk trauern. Nicht mit Kränzen, sondern mit Reichskriegsflaggen und „Kühnengruß“. Bei ihnen heißt der voradventliche Sonntag immer noch „Heldengedenktag“.

Wie früher.

Brandenburgs Innenministerium hat den Aufmarsch der erwarteten 1.000 Neonazis verboten. Polizeitruppen aus Nordrhein- Westfalen und Bundesgrenzschützer aus Sachsen sollen die beiden Soldatenfriedhöfe großräumig absperren. Ein Teil der Polizeieinheiten wird sich wohl mehr um die Antifaschisten kümmern. Denn auch die Linken demonstrieren am Volkstrauertag. Sie haben in Königs Wusterhausen, in Sachsenhausen, Potsdam und in Cottbus Kundgebungen angemeldet und planen eine Sternfahrt nach Halbe und Seelow.

Es geht darum, wem dieser 14. November gehört. Den Helden, die für Führer und Großdeutschland gefallen sind? Oder den Opfern der Helden?

Für die Bundesregierung und, in mächtiger Präsenz allen voran, Bundeskanzler Helmut Kohl ist diese Frage entschieden. Nämlich allen. Wenn die Nation nicht weiß, ob sie noch eine ist, und die Arbeitsteilung zwischen denen, die aus der Geschichte lernen wollen, und denen, die immer so weitermachen, immer noch nicht aufgehoben ist, betätigt er sich eben als Generalist und Volkserzieher. Im Stil des 19. Jahrhunderts, aber im Namen der Demokratie. Erst verfügt er ein Deutsches Museum in Bonn, dann ein Deutsches Historisches Museum (DHM) in Berlin, und morgen weiht er in der Hauptstadt die deutsche „Gedenkzentrale“ (Die Woche) ein. Er befiehlt Versöhnung und Einigkeit und macht es sich dabei nur selbst recht.

Vor genau zehn Monaten erließ er das Dekret, die nach dem Sieg über Napoleon von Karl-Friedrich Schinkel gebaute Neue Wache werde die neue, allumfassende nationale Gedenkstätte für „die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Basta! Der von Heinrich Tessenow 1930/31 zu einer Trauerstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges umgestaltete Innenraum wurde in Folge des Kanzlerwortes in Blitzarbeit rekonstruiert, bloß Tessenows Altar durch Gefühlsechtes ersetzt.

Statt schwarzem Granitsockel mit silbernem Eichenkranz ist jetzt die Mitte des Raumes mit der auf anderthalb Meter vergrößerten Skulptur „Mutter mit totem Sohn“ von Käthe Kollwitz besetzt. Diese Idee hatte DHM-Chef Christoph Stölzl, der Sentimentales für verbindend hält, dem Kanzler eingeflüstert. Wozu nicht viel Überzeugungsarbeit notwendig war, denn das 38 Zentimeter kleine Original steht auf Kohls Schreibtisch. Im Gegenzug erhielt Stölzl einen „Geschäftsbesorgungsvertrag“ für die „Schinkel-Tessenow-Kollwitz- Collage“ (Salomon Korn vom Zentralrat der Juden in Deutschland). Nach postnapoleonischem Siegesmal, republikanischem und nationalsozialistischem Reichsehrenmal und DDR-Gedenkstätte für die „Opfer des Faschismus und Militarismus“ hat das vereinigte Deutschland jetzt endlich ein „Bundesehrenmal“ in der Hauptstadt. Bevor noch ein Bonner Politiker umgezogen ist, können ihre Staatsgäste Kranzschleifen ordnen und Betroffenheit mimen. Auch wenn sie nicht wissen, wer von wem umgebracht wurde.

Die Inschrift „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ nennt die für Hitler freiwillig Gefallenen in einem Atemzug mit den in den Konzentrationslagern Verbrannten. Auch der in letzter Sekunde beschlossene Versuch, durch Anbringung einer die Ermordeten nennenden Tafel – von Juden bis zu Gegnern des ostdeutschen Kommunismus –, ist nur Schadensbegrenzung, nichts sonst. Sie wurde von oben dekretiert. So geht die Kohl-Stölzl-Rechnung der Zwangsversöhnung trotz differenzierenden Beiwerkes nicht auf. Der Widerstand gegen das in absolutistischer Manier verordnete Denkmal, der Protest über die Verkleisterung der Gegensätze zwischen Täter und Opfer in der zentralen Inschrift und die aufgeblasene Kollwitz-Figur ist vehement.

Walter Jens plädiert für die Idee, die Heinrich Tessenow 1946 als einzig angemessenen Ausdruck für Krieg und die Abermillionen von verschwundenen Opfern gelten lassen wollte: Ein abgrundtiefes Loch, „oben der Himmel, unten die Grube“. Und der Historiker Reinhart Koselleck will keinen „bundesrepublikanischen Allgemeinkult“, erst recht keine „Sinnstiftung“, sondern ein Denkmal, dessen Botschaft so eindeutig ist, „daß sich jede erklärende Inschrift erübrigt“ (siehe Koselleck-Gespräch auf Seite 10 dieser taz). Die jetzige Widmung in der Neuen Wache enthalte einen „verlogenen Opferbegriff“. Alle seien Opfer, niemand habe etwas getan, alle hätten nur gelitten. Die nationalsozialistische Diktatur als Verkehrsunfall.

Die Berliner Denkmalpflegerin Gabi Dolff-Bonekämper will, daß bei einem Denkmal „Schuld und Verantwortung“ ihren Ausdruck finden und nicht das „freiwillige Opfer der Mutter“. Käthe Kollwitz hat 1914 ihr Kind in den Tod ziehen lassen. „Maria Unter den Linden“, giftete Benedict Erenz in der Zeit, „katholische Wegkapelle“, der stellvertretende Direktor der Akademie der Künste, Eberhard Roters. Und die fundamentalste Kritik an der Kollwitz-Pieta formulierte wiederum Reinhart Koselleck. Sie sei ein christliches Symbol, „kein Denkmal, das auch nur andeutungsweise versucht, die vernichteten Juden einzubeziehen“.

Statt Einigkeit bei den Deutschen also nur Streit? In der vergangenen Woche ketteten sich die ersten Demonstranten aus Protest gegen die Verwischung von Opfern und Tätern an die Tore der Neuen Wache. Zeitgleich mit der Eröffnungszeremonie am Sonntag – die gesamte Bonner Prominenz wird kommen – veranstalten die Gegner der zentralen Gedenkstätte einen Protest-Trauer-Gang zu den Stätten jüdischen Leids. Mit dabei: Der Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin. Die größte jüdische Gemeinde von Deutschland, die in Berlin, hat mit einer Protestresolution gegen die nivellierende Inschrift ebenfalls die Einweihungseinladung abgelehnt. Sie kritisiert damit auch indirekt den höchsten Repräsentanten der Juden in Deutschland, ihren Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis.

Der hatte noch im September seine Beteiligung am Kranzgang verweigert, änderte aber seine Meinung, nachdem im Oktober die erläuternde Ergänzungstafel beschlossen wurde.

In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Ha'aretz am 15. Oktober beantwortete er die Frage, warum er doch an Kohls Seite schreiten wird, folgendermaßen: Nachdem die Inschrift nicht mehr zu verhindern gewesen sei, „ging ich zu ihm (zu Kohl; Anm. d. Red.) und sagte ihm: Hören Sie, machen Sie, was Sie wollen. Geben Sie uns ein gutes Grundstück in Berlin, um das Mahnmal für die Juden zu errichten, und Sie machen, was Sie wollen und schreiben, was Sie wollen, und wir werden uns da nicht weiter einmischen.“

Inzwischen ist es eine beschlossene Sache, daß das Denkmal für die ermordeten Juden Europas auf einem etwa 2.000 Quadratmeter großen Gelände in den ehemaligen Ministergärten errichtet werden wird. Die Auslobung des Wettbewerbs ist für das Frühjahr geplant, die Fertigstellung soll noch in diesem Jahrhundert erfolgen. Auch der ermordeten Roma und Sinti soll 50 Jahre danach irgendwo gedacht werden. Noch steht dieser Ort aber nicht fest.

Es wird also Realität, wovor die Kritiker der Neuen Wache von Anfang an gewarnt haben: die wirklichen „Opfer der Gewaltherrschaft“ überlassen die Neue Wache dem „deutschen Volk“. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Rechtsradikalen nicht mehr nach Seelow oder Halbe pilgern, sondern gleich Unter die Linden. Bundeskanzler Kohl wollte Eintracht ernten – und hat nur Zwietracht gesät.