Fast jeder Schwule hatte einen Decknamen

■ Homosexuelle Männer lebten in den fünfziger Jahren in ständiger Angst

„Als ich meinen Freund mit zu mir ins Zimmer nahm, sind wir die Treppe im gleichen Schritt hinaufgegangen. Die Nachbarn sollten denken, daß ich alleine komme.“ Wenn Andreas Mayer-Hanno von seiner Jugend in Wilmersdorf erzählt, ist kein Fünkchen Nierentisch-Nostalgie zu spüren. „In den fünfziger Jahren lebten wir Schwule in ständiger Angst“, erinnert sich der heute 62jährige Musikprofessor. „Ein Hinweis bei der Polizei genügte, und die Beamten untersuchten unsere Bettwäsche nach Spermaspuren.“

Die vier Senioren auf dem Podium der KulturBrauerei haben sich ordentlich herausgeputzt für ihren Auftritt am vergangenen Freitag abend. Martin Pohl, der 64jährige Brecht-Schüler, und Hans Friedrich Bergmann, der frühere Waldarbeiter, tragen enggeschnürte Lederhosen – es kommt schließlich selten vor, daß junge Schwule etwas von ihnen wissen wollen. Die meisten Besucher waren in den fünfziger Jahren noch gar nicht auf der Welt. Sie sind der Einladung des Homo-Switchboards „Mann-O-Meter“ gefolgt, das die alte „TalkSchwuZ“-Idee wiederaufleben ließ. Im Oktober ging es um die Schwulen der sechziger Jahre, heute ist das Homoleben in den Fifties dran.

Moderator Uwe Jahn hat es nicht leicht. Alte Männer sind eigenwillig und geben nur selten die gewünschten Antworten. So plaudert Martin Pohl lieber von seiner schlesischen Heimat als von den Belehrungen, die er als Nachwuchstalent in der DDR ertragen mußte. Es hatte sich nämlich bei seinen Vorgesetzten herumgesprochen, daß der junge Pohl in den Westberliner Homokneipen „Kleist-Casino“ und „Ellis Bierbar“ ein und aus ging. „Ich wurde zu Ludwig Renn zitiert, der mich darüber aufklärte, daß es auch in der FDJ kernige Arbeiter gibt“, erzählt er schmunzelnd. Nach ernsthafterem Drängen von SED-Kulturfunktionären mußte er jedoch seine Beziehungen zu einem Westberliner lösen und zog „aus Angst und Schuldgefühlen“ mit einer Frau vors Standesamt – eine typische schwule Biographie.

Die Erfahrungen der vier Zeitzeugen aus Ost und West ähneln sich. Doch das einsamste Leben von ihnen führte wohl Jens Asmus in der jungen Bundesrepublik. „Bis 1960 hatte ich homosexuelle Erlebnisse, aber keine schwule Freundschaft“, so der 63jährige. Wegen „gleichgeschlechtlicher Unzucht“ saß er über zwei Jahre hinter Gittern. „Ich habe damals ernsthaft gedacht, daß ich ein Verbrecher bin“, blickt Asmus auf eine unglückliche Jugend zurück. Da hatte es Hans Friedrich Bergmann schon leichter, als er mit 17 Jahren im Potsdamer „Werner-Alfred-Bad“ zufällig zu zweit unter der Dusche stand: „Erst wurde ein bißchen gestreichelt, dann geblasen und dann immer mehr.“ Über den Quickie geriet Bergmann in einen schwulen Freundeskreis, der sich unterstützte. Der eine konnte schneidern, der andere reparierte Radios, Bergmann kannte sich auf dem Schwarzmarkt aus.

„Ich habe die schwule Welt nur feindselig empfunden“, berichtet dagegen Andreas Meyer-Hanno aus dem Adenauer-Staat. Das Wirtschaftswunder sei an den Schwulen nicht vorübergegangen: „Man bedeutete nur etwas, wenn man Geld besaß und gute Klamotten.“ Aus Selbstschutz hätten sich viele Decknamen zugelegt und falsche Telefonnummern angegeben. Obwohl der junge Andreas ein attraktiver Kerl war, wurde er oft versetzt – aus Angst.

Zweieinhalb Stunden plaudern die Zeitzeugen schon, doch viele Fragen bleiben offen – alte Männer bringen Antworten nicht immer auf den Punkt. Was sie der schwulen Jugend wünschen, fragt Uwe Jahn in der Schlußrunde. Andreas Meyer-Hanno schwärmt vom ungehemmten Sex in den Siebzigern, als der Paragraph 175 reformiert und Aids noch ein Fremdwort war. Martin Pohl und Hans Friedrich Bergmann wünschen der „kalten“ Szene die Geborgenheit der Notgemeinschaft zurück. „Heute geht es uns gut“, meint hingegen Jens Asmus: „Wir können hier sitzen, ohne daß die Polizei kommt.“ Ironische Blicke und Kopfschütteln im Publikum. Wie das homosexuelle Leben vor vierzig Jahren wirklich aussah, können sich junge Schwule einfach nicht vorstellen. Micha Schulze