Die neuen Quartiere (zehnte Folge): Der Zwang, Wohnraum zu schaffen, läßt die Planer zu Schlafstadt-Lösungen der sechziger Jahre greifen / Städtebauliches Grundproblem ist der Mangel an Stadtzusammenhang Von Dieter Hoffmann-Axthelm

Welche Stadterweiterung braucht Berlin?

Die laufenden Planungen und Umsetzungen von Stadterweiterung haben ein gemeinsames Thema: Wohnen. Sie antworten nicht auf die Frage, wie die Stadt entwickelt werden soll, sondern sie antworten, aus einer akuten politischen Drucksituation – Wohnungsmangel als politisches Bewährungskriterium Nr.1 – auf die sehr viel kürzer angebundene Frage: Wo kann man die gebrauchten Quadratmetermengen Wohnraum überhaupt unterbringen. Oberstes Kriterium war die schnelle Umsetzbarkeit.

Dagegen ist nichts einzuwenden. Auch wenn man in Berlin, im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten und erst recht mit allseits bekannten Weltstädten, in Europa und anderswo, von einer wirklichen Wohnungsnot nicht reden kann, ist die Aufgabe zweifellos da, und daß sie angepackt wurde, ist einer der wenigen Fälle, wo die Berliner Verwaltung in den letzten Jahren wirklich offensiv geworden ist.

Aber man muß sich darüber im klaren sein, daß damit alle anstehenden, längerfristig unvermeidlichen Fragen erst einmal, um dem unmittelbaren Druck zu begegnen, ausgespart wurden. Wir haben eine Reihe von Ad-hoc-Maßnahmen vor uns. Das zeigt schon die Unvergleichlichkeit der einzelnen Situationen untereinander, das Überwiegen der Einzelbeschreibung, die Betonung des jeweiligen Siedlungstypus. Geredet wird von Idealen: Gartenstadt, Vorstadt, Parkstadt, Silicon Valley, Rückgewinnung von Landschaft durch Verstädterung diffuser Siedlungsflächen usw.

Diese enorme Liebe zur Typologie hat einen ganz einfachen Grund. Man tut das, was man, nach dem heutigen Diskussionsstand der Stadtplaner, eigentlich nicht mehr tun will und kann: Man setzt die Planungsformen der sechziger Jahre fort.

Das beginnt mit dem Vorgehen selbst, Flächen zusammenzusuchen, wo Wohnungsbau plaziert werden kann. Dieses Vorgehen ist die lineare Fortschreibung der städtebaulichen Vergangenheit, und sie ist zugleich, wie sollte es anders sein, in der Wahl der Flächen eine Fortschreibung von DDR- Planungen (Buch, Altglienicke). Die neuen Erweiterungsplanungen beschwören eine Abkehr von der Siedlung, die in der Planungsmethodik nicht stattfindet. Man baut auf einen Schlag, auf möglichst großen Flächen, mit möglichst einem einzigen Bauherren. Wie immer das ästhetische Ideal aussieht, das man sich auf die Fahne schreibt, Vorstadt, Gartenstadt oder was immer, funktional handelt es sich schlicht um neue Wohnsiedlungen, die nur nicht mehr in Großwohnanlagen oder Zeilenbauten errichtet werden, sondern in städtischen Formen – will sagen: in Formen, die Stadt spielen – zum Beispiel Blockbildung, viergeschossige geschlossene Bebauung, Straßen und Plätze –, aber an der Funktion Schlafstadt nichts ändern können. Man wird froh sein, wenn diese neuen Siedlungen wenigstens bei Bezug auch an den schienengebundenen öffentlichen Nahverkehr angebunden sind und die nötige Infrastruktur aufweisen. Das ist der Stand – nicht anders als in allen anderen europäischen Städten auch.

Das erste Manko ist also, daß diese neuen Gebiete nur ästhetisch, nicht strukturell verstädtert sind. Das zweite Manko ist, daß sie die Gesamtstadt nicht thematisieren, sondern immer nur ihre eigenen Vorteile. Krassestes Beispiel dafür ist die Wasserstadt Spandau: Es wird, am unpassenden Ort, die abstrakte Idee der Stadt am Wasser realisiert (noch dazu mit einer Architektur und in Dimensionen, die dort so wenig hinpassen, wie die istrische Kleinstadt, die Leon Krier einst für den Tegeler Hafen entwarf, in den Reinickendorfer Vorort). Was die Maßnahme für die Gesamtstadt bedeutet, wie sie sich in ihrer Gesamtarchitektur verhält (und das ist mehr, als daß man in zehn Minuten am Flughafen Tegel ist), bleibt vorerst im dunkeln.

Die allgemeine Abkehr vom Proklamieren neuer Städte ist erfreulich. Aber ergibt das schon etwas anderes, ein Weiterbauen der Gesamtstadt, das die Stadt im Blick hat und nicht nur den neuen Standort? Wo liegt die jeweilige Fläche im Gesamtzusammenhang Berlins? Was leistet sie für den Zusammenhang? Wird innerhalb des Stadtgebietes Vernetzung erzeugt, oder werden einfach Siedlungsstränge weitergebaut, von denen es völlig gleichgültig ist, ob sie diesseits oder jenseits der Stadtgrenze liegen?

Die neuen Wohnbauflächen stellen angesichts solcher Fragen allesamt das Schulbeispiel richtiger Politik am falschen Ort dar. Um das zu verstehen, muß man allerdings kurz auf die Planungsgeschichte der Großstadt Berlin zurückgreifen.

Das städtebauliche Grundproblem Berlins ist der Mangel an Stadtzusammenhang. Die Stadt wuchs als Stadt auf Dörfern, und das ist Berlin bis heute geblieben. Alle Stadterweiterungen dieses Jahrhunderts zeigen bisher die fatale Gemeinsamkeit, auf sich selbst bezogene Siedlungsinseln zu optimieren, ohne den Stadtzusammenhang auszubauen. Die herausragenden Strukturleistungen dieses Jahrhunderts waren Großverkehrsbauten – Stadtautobahn und Tangentenbau im Westen, Magistralenbau im Osten –, die gerade nicht Zusammenhang schaffen, sondern vernichten.

Daß Berlin auch einen richtigen Stadtkörper von Großstadtdimensionen ausgebildet hat, verdanken wir dem 19. Jahrhundert, und zwar nahezu ausschließlich dem Hobrecht-Plan von 1860. Dieser Plan hat im vorigen Jahrhundert Berlin in einem qualitativen Sinne zur Großstadt gemacht. Vier Millionen Einwohner um 1900 in der weiteren Agglomeration, das hätte ein Ameisenhaufen sein können, und wäre es unter heutigen Planungsverhältnissen ganz sicher. Daß das Stadtwachstum Berlins in städtischen Formen vor sich ging; daß wir heute nicht nur Prenzlauer Berg und den verbliebenen Rest von Kreuzberg als beispielhaft städtisch erleben, sondern auch Moabit, Schöneberg, Neukölln, Friedrichshain, Charlottenburg, das ist die wesentliche Leistung des Hobrecht-Planes und der hinter ihm stehenden liberalen Entwicklungspolitik.

Wenn es nach den Bauverwaltungen von Ost und West gegangen wäre, gäbe es dieses Berlin gar nicht mehr, und die Stadt bestände heute nur noch aus durchgrünten Siedlungen und einem zugigen repräsentativen Zentrum an der Stelle des historischen Stadtkerns. Dahinter steht der grundsätzliche Bruch der zwanziger Jahre: das Credo, die neue Stadt sei eine Stadt aus Siedlungen im Grünen. Das war aber bereits das Planungscredo der zwanziger Jahre.

Daraufhin brach damals das prozessuale Stadtwachstum ab (mit der Ausnahme Wilmersdorf, die wir der Berlinischen Bodengesellschaft von Georg Haberland verdanken), es begann ein stochastisches Wachstum in großen Sprüngen, das jeweils neue Siedlungsinseln schuf und auch gar nicht anders konnte, da man die geplanten Gesamtanlagen nur dort bauen konnte, wo man entsprechend zusammenhängendes Gelände auf einen Schlag bebauen konnte. Die städtebauliche Bruchkante zwischen den parzellären Wachstumszonen und der insularen Siedlungsperipherie ist bis heute das zentrale Berliner Strukturproblem, das durch alle bisherige Stadtentwicklung (Großsiedlungen wie zugehörige Verkehrspolitik) nur noch verschärft wurde.

Diese Bruchkante ist im Berliner Stadtgebiet allgegenwärtig. Das betrifft nicht nur die eigentliche Innenstadt, die in Alt-Mariendorf, Britz, an der Königsheide, in der Nalepastraße, in Friedrichsfelde, ringsum über die Rennbahnstraße bis zum Plötzensee abbricht. Das Phänomen vervielfältigt sich in den autonomen Peripherien von Köpenick, Steglitz, Spandau und Reinickendorf. Hier haben wir mit die besterschlossensten Flächen in der Stadt, innenstadtnah, aber völlig untergenutzt. Ein Gemisch aus Siedlungen, Kleinhausgebieten, Laubenkolonien, Industrieresten, Bahnflächen und Verkehrstrassen legt diese Flächen still – damit also den Tatort, wo der verlorene Faden des Stadtwachstums wieder aufgenommen werden könnte, damit man aus dem Stolpern von Maßnahme zu Maßnahme herauskommt. Hier liegen, wie bekannt, die großen Flächenpotentiale.

Daß sie kurzfristig nicht greifbar sind, ist ebenso klar. Die Protestaktionen der Laubenbesitzer, die Ängste der Kleinhauserbauer sind antizipierbar. Aber hier liegt die eigentliche Gegenwartsaufgabe der Stadtentwicklung. Die gegenwärtig in Planung befindlichen Wohnungsbauflächen liegen dagegen (mit Ausnahme des Quartiers an der Rummelsburger Bucht, das vermutlich mit Olympia den Bach heruntergeht) alle jenseits dieser Zwischenzone, größtenteils doppelt so weit von der Innenstadt entfernt. Das Überspringen der inneren Peripherie erzeugt enorme zusätzliche Verkehrsströme, unnötige Infrastrukturkosten und tägliche Zeitverluste der Pendler, die genausogut zehn Kilometer stadteinwärts hätten eine Wohnung finden können.

Es ist klar, daß damit noch keine Antwort auf die Zukunftsfragen der Berliner Stadtentwicklung gegeben ist. Es würde erst einmal Gegenwart hergestellt: daß man die Flächen, die man hat, auch wirklich nutzt. Dazu würde auch eine wirkliche Stadtentwicklungs-Konzeption, gäbe es sie, keine Alternative bilden. Erst einmal müssen die vorhandenen Entwicklungsdefizite abgebaut werden, bevor man sich, auf einer Ebene mit den Weltstädten der westlichen Welt, über die Zukunft der Stadt und die anderswo sich abzeichnenden Verteilungsmuster für städtische Massen unterhalten kann. Erst müssen die Schularbeiten gemacht werden: Wiederherstellung von Stadtzusammenhang. Dann kann man über die möglichen oder nötigen Abkopplungen reden, die, völlig zu Recht, das Land Brandenburg einfordert. Die gegenwärtigen Entwicklungsmaßnahmen waren vermutlich unvermeidlich, aber die Richtung ist deshalb nicht weniger falsch.

Die Serie „Die neuen Quartiere“ wird am Montag nächster Woche abgeschlossen mit einem Essay von Harald Bodenschatz.