Nebensachen aus Istanbul: Was verboten ist, das macht uns gerade scharf
■ Während der Zählung der Wähler herrschte in der Türkei einen Tag lang Ausgangssperre
Die Medien haben wieder einmal übertrieben. Von eintägigem Knast für alle Bürger war die Rede. Und das bloß wegen der Ausgangssperre am vergangenen Sonntag. Die Hohe Wahlkommission hatte beschlossen, daß von fünf Uhr morgens bis neunzehn Uhr abends alle Türken zu Hause zu bleiben haben, damit die Wähler, rund 31 Millionen sollen es mittlerweile sein, ordentlich gezählt werden können. Grund für die Zählung war die Verhinderung von Wahlbetrug bei den nächsten Kommunalwahlen im Frühjahr. Zweifach gemeldete könnten zweifach wählen, da nicht alle Wähler im Computer abgeglichen seien, hieß es.
Der Staat ließ sich die Wählerzählung etwas kosten. Schließlich bedarf es eines gewaltigen Organisationsapparates. Hunderttausende Zähler zogen von Wohnung zu Wohnung. Polizeiliche Festnahme und Geldstrafe drohten jedem, der das totale Ausgangsverbot durchbrach.
Die türkischen Politiker kritisierten die Ausgangssperre, um sich bei den Wählern schon mal lieb Kind zu machen. Ministerpräsidentin Tansu Ciller verurteilte die Zählung als „primitive Vorgehensweise“ und versprach: „Es ist das allerletzte Mal.“
Ich dagegen fand, daß die Ausgangssperre etwas ganz Tolles ist. Zum Beispiel für die Touristen, denn die Ausgangssperre betraf nur türkische Staatsbürger. Die Touristen streiften durch die Stadt und hatten die einmalige Gelegenheit, die Stadt am Bosporus mal ohne Verkehrslärm, Smog und gehetzte Menschenmassen kennenzulernen. Dann die Kinder. Frühmorgens nahmen sie Straßen und Plätze in Besitz und spielten dort Ball, wo sie ansonsten von Autos terrorisiert werden. Ein himmlischer Tag auch für Obdachlose. Sich sonnen mit einer Flasche Wein an den Ufern des Bosporus auf der Hauptverkehrsader. Eine Stadt ohne Autos, ohne von Arbeit gehetzte Menschen. Eine Stadt der Kinder, der Urlauber und der Obdachlosen ist etwas Wunderbares.
Im Rahmen der Ausgangssperre konnten einige Lehren in Massenpsychologie gezogen werden. Einen Tag zuvor waren die Regale der Lebensmittelläden leergefegt. In Istanbul horteten die Menschen Waren, als stünden Krieg, Lebensmittelnot und Hunger bevor. Und stets gibt es das Aufbegehren gegen Verbote. Gerade weil es das Verbot gibt, drängt es Menschen, die ansonsten den Sonntag friedlich zu Hause verbringen würden, nach draußen.
Bereits um 8 Uhr klingelte es an meiner Haustür. „Guten Tag, Ömer bey, ich bin Ihr Zähler“, sagte eine freundliche Stimme. Dem Kassierer meiner Bank war die Aufgabe erteilt worden, die Wähler der Gasse zu zählen. Gefragt sind ohnehin nur die Angaben, die im Personalausweis stehen. Mich zu zählen, hat drei Minuten gedauert.
Wenige Stunden später klingelte mein Nachbar an der Tür. „Heute ist Ausgangssperre, deshalb werden wir den ganzen Tag auf der Straße verbringen.“ Mehrere Dutzend Anwohner bauten Tische und Stühle auf. Ein Straßenfest, das mit Frühstück begann und mit gegrillten Würstchen und dem Anisschnaps Raki weiterging. Mehrfach zog unser Zähler an der Runde vorbei. „Die Polizei hat gefragt, ob hier alles in Ordnung sei. Ich habe mit Ja geantwortet.“
Natürlich war alles in Ordnung. Schließlich befanden sich alle Anwohner während der Ausgangssperre im Freien. Interventionen gegen die am späten Nachmittag angetrunkene Runde gab es seitens der Sicherheitskräfte nicht. Ein Nachbar, der offensichtlich am Rechtsbruch Freude fand, guckte gegen 17.00 Uhr auf die Uhr: „Noch zwei Stunden müssen wir draußen bleiben, dann können wir nach Hause.“
Wir hörten das Zwitschern der Vögel, das ansonsten im Straßenlärm untergeht, und tranken. Um 19.00 Uhr war der Traum ausgeträumt. Das Heulen der Automotoren begann, der Verkehr brach zusammen, und Istanbul versank in Lärm und Alltagssmog. Ömer Erzeren
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