Umrüsten statt abrüsten

Vier Jahre nach Ende des Kalten Krieges werden die Hoffnungen auf ein Ende der teuren Hochrüstung enttäuscht – fast überall auf der Welt  ■ Aus Genf Andreas Zumach

Nach dem Fall der Berliner Mauer vor jetzt genau vier Jahren herrschte große Euphorie. Endlich hielten auch Regierungen für möglich, was von Friedensorganisationen seit langem gefordert wird: die Abrüstung der über 40 Jahre angehäuften Waffenarsenale, eine Verringerung von Truppenstärken sowie die Senkung der Militärhaushalte.

Bislang haben sich diese Hoffnungen nicht annähernd erfüllt. Die wenigen positiven Meldungen der letzten vier Jahre zum Thema sehen bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr so positiv aus. So verzeichnet etwa das Internationale Friedensforschungsinstitut in Stockholm (Sipri) in seinem jüngsten Jahrbuch für 1992 erstmals einen leichten Rückgang der weltweiten Rüstungsausgaben. Im Vergleich zu 1991 sanken sie auf knapp unter eine Billion US-Dollar. Ursache ist jedoch fast allein die drastische Kürzung der Militärhaushalte in Rußland und den anderen exsowjetischen Republiken. Für die Sipri-Bilanz kaum ins Gewicht fallen die geringen Ausgabenkürzungen in den USA, noch weniger die marginalen Reduzierungen in Deutschland und Westeuropa. Für die übrigen Weltregionen registriert Sipri entweder unveränderte Militärausgaben oder aber – vor allem in Asien – erhebliche Zuwächse.

Bei einer Umsetzung der Anfang November vom russischen Verteidigungsminister Gratschow veröffentlichten neuen Militärdoktrin würden die russischen Ausgaben in den kommenden Jahren zwangsläufig wieder ansteigen. Die von den Generälen verfaßte Doktrin behauptet Bedrohungen der Sicherheit des Riesenlandes von allen Seiten – auch von Polen an der Westgrenze oder gar durch die kleinen baltischen Staaten – gegen die sich Rußland militärisch wappnen müsse. In Abkehr von der Politik Gorbatschows bestehen die Verfasser sogar auf einem möglichen Ersteinsatz des Atomwaffenarsenals. Das bedeutet zwangsläufig diverse Modernisierungsmaßnahmen bis hin zur Wiederaufnahme der Atomwaffentests. Zwar hat Präsident Jelzin die neue Militärdoktrin noch nicht offiziell abgesegnet. Aber seine bisherigen Äußerungen lassen auf Zustimmung schließen.

In einem Brief an die Nato hat Jelzin bereits eine gravierende Veränderung des KSE-Vertrages über die Verringerung konventioneller Waffensysteme im Europa zwischen Atlantik und Ural von 1990 verlangt. Rußland möchte die darin vereinbarten Obergrenzen für Panzer und andere schwere Waffen in seinen Grenzregionen zum Kaukasus erheblich nach oben korrigieren. Eine Veränderung des VKSE-Abkommens zugunsten Rußlands dürfte entsprechende Forderungen anderer Staaten Osteuropas nach sich ziehen. Aber auch die Türkei und Griechenland dürften Veränderungen der Obergrenzen fordern.

Gleichzeitig suchen die Rüstungsindustrien der USA und der EG-Staaten dringend nach neuen Exportmärkten. Denn die Beschränkung der Militärhaushalte in diesen Ländern wirkt sich bislang vor allem auf die Waffenbeschaffung bei der einheimischen Industrie aus. Und mangels Interesses der Regierungen wie der Rüstungsunternehmen gibt es – trotz vergleichsweise sehr viel günstiger gesamtwirtschaftlicher Voraussetzungen als etwa in Rußland – auch in keinem der westlichen Staaten bis heute nennenswerte Projekte der Konversion von Rüstungs- zu Zivilgüterproduktion. Schon in den letzten zwei Jahren hat diese Situation zu einer erheblichen Zunahme der Rüstungsexporte westlicher Staaten in die „Dritte Welt“ wie nach Südosteuropa geführt. Die Bundesrepublik steht inzwischen hinter den USA und vor Großbritannien auf Platz zwei der weltweit größten Rüstungsexportländer. Mit ihren Exporten schüren die westlichen Staaten derzeit vor allem die drei größeren regionalen Rüstungswettläufe: im Nahen Osten, zwischen Indien und Pakistan sowie in Asien. Hier finden mehrere miteinandner verknüpfte Wettläufe statt: zwischen Nord-und Südkorea, China und Taiwan sowie zwischen China und den Asean-Staaten, von denen einige Ansprüche auf Territorien im südchinesichen Meer erheben. Die Reise von Bundesverteidigungsminister Volker Rühe in diese Region Anfang November diente vorrangig der Aquirierung neuer Aufträge für die deutsche Rüstungsindustrie. Auch Rußland bemüht sich intensiv, in der Region wieder ins Rüstungsgeschäft zu kommen.

Gefährliche Rüstungswettläufe finden – bislang weitgehend unbemerkt – aber auch in Europa statt. In einer im September veröffentlichten Studie mit dem Titel „Brennstoff für den nächsten Balkankrieg“ belegt das Rüstungsforschungsinstitut „British American Security Information Council“ (Basic), daß Griechenland und die Türkei in den letzten drei Jahren massiver aufgerüstet wurden als je zuvor seit dem Zypernkrieg im August 1974. Die neuen Waffen kamen aus Nato-Staaten. Zweitgrößter Lieferant nach den USA war Deutschland. So erhielt die Türkei 370.000 Artilleriegranaten aus NVA-Beständen.

Die politischen Bemühungen zur Beschränkung der Rüstungsexporte bleiben hoffnungslos hinter den realen Entwicklungen zurück. Die sogenannten P-5- Gespräche der ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates über Richtlinien zur Kontrolle von Waffenexporten sind seit Oktober 1992 unterbrochen, weil US-Präsident George Bush seinerzeit dem Verkauf von 200 F-16-Kampfflugzeugen an Taiwan zustimmte. Zugleich mehren sich in Deutschland und anderswo die Stimmen, die mit dem Argument der Rüstungsarbeitsplätze die Aufweichung der Exportrestriktionen fordern.

Weitgehend ungebrochen ist weltweit der Trend, neue Waffen und Munitionstypen zu entwickeln, die zielgenauer, zerstörungskräftiger, flexibler einsatzbar – kurz „intelligenter“ sind als ihre Vorgänger. Wie in Deutschland steigen auch in den meisten anderen Staaten, deren Militärhaushalte insgesamt eingefroren wurden oder gar sinken, die Ausgaben für die Forschung und Entwicklung neuer Waffen kontinuierlich. Mit den neuen Waffen lassen sich in vielen Fällen die zahlenmäßigen Reduzierungen alter Waffensysteme kompensieren und damit die Schlagkraft der Militärs erhalten – oder gar erhöhen.