: Für die SPD hat sich das Blatt gewendet
Beim heute beginnenden SPD-Parteitag werden Blauhelmeinsätze und der Lauschangriff kaum noch Reizthemen sein / Wirtschafts- und Sozialpolitik haben für Scharping Priorität ■ Aus Bonn Tissy Bruns
Günter Verheugen weiß natürlich, daß sich jeder Parteitag ein Thema sucht, an dem es die Delegierten ihren Parteioberen einmal richtig zeigen wollen. Das Mammutprogramm des SPD-Parteitags, der morgen in Wiesbaden beginnt, ist freilich so gut eingefädelt, daß der Bundesgeschäftsführer kaum berechnen kann, wo die rund 480 Delegierten diesmal Dampf ablassen könnten. Bei den Beschlüssen zur Parteireform, mit denen sich die Partei Nichtmitgliedern und Urabstimmungen öffnen will? Oder doch, wenn es um die fünf Stellvertreterposten geht, die abweichend von den vorgesehenen vier besetzt werden sollen, damit Herta Däubler-Gmelin und Heidi Wieczorek-Zeul nicht gegeneinander kandidieren? Gibt es eine Chance für die linken Gegenanträge zur Wirtschaftspolitik, die in Wiesbaden unter Oskar Lafontaines Federführung verhandelt wird?
Unwahrscheinlich ist jedenfalls, daß die Delegierten bei den Themen gegen die Empfehlungen des Parteivorstands votieren, die noch vor einem halben Jahr als extrem konfliktträchtig galten. Bei Blauhelmen und Lauschangriff rumort es zwar vernehmbar an den Rändern. Gerd Andres, Sprecher des rechten Seeheimer Kreises, hat in der letzten Woche noch einmal den außenpolitischen Antrag moniert, der internationale Einsätze der Bundeswehr auf Blauhelme beschränkt. Zu viele Zugeständnisse an den Druck von rechts, bemängeln die Linken das Einschwenken auf den Lauschangriff. Trotzdem ist die Prognose nicht wagemutig, daß die Kröten geschluckt und die Delegierten am Ende den Empfehlungen des Parteivorstands folgen werden.
Die SPD setzt sich anders in Szene als vor einem Jahr. Da fand in der Bonner Beethovenhalle der Asyl-Sonderparteitag statt. Selbst wenn der neue Parteivorsitzende Rudolf Scharping in dieser Woche nicht in allen Punkten wie gewünscht bestehen kann, sieht es nicht danach aus, als könnten CDU und CSU noch einmal einen Ansatzpunkt finden, um die SPD wie beim Asylthema vor sich herzutreiben. Das Blatt hat sich gewendet, zum Teil, weil die SPD mit Scharping wieder einen Vorsitzenden hat, der mit seiner Partei ernsthaft an die Macht will. In erster Linie spiegeln die günstigen Wählerumfragen, an denen sich die SPD gelegentlich freuen kann, die Götterdämmerung in der Union; Kohls Macht zerfällt.
Scharping („Ich bin längst nicht der Meinung, daß wir gut sind“) stellt sich in Wiesbaden wiederum dem Votum der Delegierten, nach der Mitgliederbefragung und der Wahl auf dem Essener Sonderparteitag im Juni also ein drittes Mal. Offenbar scheint es ihm ratsam, mehr als doppelt zu nähen, um die Führungskrise wirklich abzuschließen. In der Zeit vom Juni bis zu diesem Parteitag war Scharping, war die SPD mit Aufräum- und Begradigungsarbeiten aller Art beschäftigt. Und die waren in schöner Regelmäßigkeit von Gerangel und Querelen jener Art begleitet, die der SPD-Führung den Ruf eingetragen haben, sie sei in Wahrheit eine GUS, eine Gemeinschaft unabhängiger Sprecher.
Der Testlauf auf die Führungskraft des neuen Vorsitzenden endet mit einer interessanten Bilanz. Bei den Blauhelmen sah sich Scharping unversehens der gemeinsamen Front seiner unterlegenen Mitbewerber um Vorsitz und Kanzlerkandidatur gegenüber. Schröder, Wieczorek-Zeul und Lafontaine bremsten den Fraktionsvorsitzenden Hans-Ulrich Klose aus, der verfassungsrechtlich eine Teilnahme an UN- Einsätzen aller Art möglich machen wollte. Scharping machte gute Miene zum bösen Spiel und ließ Klose, der zugleich sein Schattenaußenminister ist, im Regen stehen. Beim Thema Innere Sicherheit indessen verpackte er den Lauschangriff mit Hilfe von Gerhard Schröder in ein Paket zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und weichte so die innerparteilichen Fronten auf. Schröder verließ das SPD-Präsidium jedoch als Verlierer, als es um den Energiekonsens ging. Lafontaine wiederum provozierte über ein Zeitungsgespräch einen Sturm, indem er für einen langsameren Anstieg der Ostlöhne und -renten votierte– Scharping hatte bei dieser Runde neben seinem Stellvertreter gesessen und verteidigte Lafontaine mit dem Hinweis, daß die Bindung der Löhne an die Produktivität eine banale ökonomische Wahrheit sei. Doch Lafontaine mußte im Bundestag auch einen ordentlichen Diener machen: Seine Rede während der Standortdebatte war in der Rentenfrage äußerst parteitreu. Mit Lafontaine zusammen hat Scharping durchgesetzt, daß die Wirtschafts- und Sozialpolitik zum ersten Thema der SPD wird.
Scharping stand also am Ende der Rangeleien stets auf der Gewinnerseite, während die anderen durchaus auch einstecken mußten. Vor allem aber wirken die Streitereien der letzten Monate unterm Strich nur noch wie ein Nachhall der zerrissenen und orientierungslosen Zeit.
Doch wird dieser Parteitag allenfalls Aufschluß über die Richtung geben, in die die SPD im Wahljahr steuert. Mit den Beschlüssen zur Außenpolitik und Inneren Sicherheit macht die SPD ja noch nicht tatsächlich Politik. Das steht im ersten Fall erst an, wenn Karlsruhe sein Urteil spricht und wenn die SPD regiert, im zweiten erst, wenn es zu Verhandlungen und Ergebnissen mit den Regierungsparteien kommt. Aber es wird Scharping gelingen, diese innerparteilichen Reizthemen so weit herunterzufahren, daß sein eigentliches Thema in den Mittelpunkt rückt: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze. Das heißt, wie der wirtschaftspolitische Leitantrag zeigt, mehr und anderes, als gute sozialpolitische Absichten im Interesse der berühmten kleinen Leute zu formulieren. Es heißt, über Strukturfragen und Standortpolitik nachzudenken, unternehmensfreundliche Bedingungen für Investitionen zu wollen, die sozialen Sicherheitssysteme wie die staatlichen Leistungen zu überprüfen. Die im „Fortschritt 90“ der späten achtziger Jahre entwickelte Idee des ökologischen Umsteuerns ist im Parteivorstandspapier hoch gewichtet, ihre Erstrangigkeit hat sie verloren. Die spektakuläre Diskussion um die Viertagewoche könnte dem Parteitag eine Stilvorlage geliefert haben, um sich gegen die Standortpolitik der christliberalen Koalition zu profilieren: eine andere Verteilung der Arbeit statt des schlichten Rufs nach „weniger Urlaub, mehr arbeiten“.
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