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„Europa: Diesmal geht es um etwas“

Angst vor Deutschland beschleunigte den Europa-Zug: Bündnis 90/Grüne verabschiedeten Programm zur Europawahl / Claudia Roth und Wolfgang Ullmann Spitzenkandidaten  ■ Aus Aachen Hans Monath

Frieder Otto Wolf brachte die Stimmung auf den Punkt: „Diesmal wird der Europawahlkampf zum ersten Mal nicht so sein wie bisher: Es geht um etwas.“ Was der später gewählte Europa-Kandidat formulierte, galt am Wochenende für die Mehrheit der Delegierten auf dem zweiten Bundesparteitag von Bündnis 90/Grüne in Aachen. Aufgeschreckt durch die drohende Renationalisierung der Politik, verabschiedete die Partei fast einstimmig ein Wahlprogramm mit einem klaren Bekenntnis zu Europa sowie eine von beiden großen Lagern getragene Kandidatenliste. Nach außen hin zeigte sie so zum Auftakt des Europawahlkampfes Geschlossenheit, wie Ludger Volmer stolz feststellte.

Als selbstverständlich galt das nicht. Mit Spannung war erwartet worden, ob die seit der Bonner Debatte über Bosnien beschädigte Zivilisation grüner Streitkultur durch Abstrafung der „Bellizisten“ beim Kampf um die zehn als sicher geltenden Listenplätze weiter Schaden nehmen würde. „Auf einem vorderen Platz kann ich so jemand nicht wählen“, war da etwa von Delegierten aus dem linken Lager über Daniel Cohn-Bendit zu hören. Die kämpferische Rede des „europäischen Bastards“ (Eigenwerbung à la Cohn-Bendit) mit dem Bekenntnis zu einer europäischen Identität machte offensichtlich Eindruck. Zumal der Dissident keine Abbitte leistete, sondern die Grünen an ihre eigenen Ansprüche erinnerte – nämlich die Fähgikeit, Minderheiten zu integrieren.

Europäischer Bastard auf dem achtem Listenplatz

Auch für den achten Listen- und mithin vierten Männerplatz brauchte Cohn-Bendit die Unterstützung seiner radikalpazifistischen Gegner. Drei Minuten vor Mitternacht war sie ihm am Samstag dann sicher: „Es ist manchmal nicht einfach, aber ich bleibe dabei: Die Grünen sind die einzige Partei, in der unabhängige Geister in der Politik Chancen haben, was zu machen“, lobte er nach seiner Wahl, während Joschka Fischer dem gegnerischen Lager versprach: „Ihr habt jetzt bei uns was gut.“

Als SpitzenkandidatInnen sollen Claudia Roth und Wolfgang Ullmann die Partei in den Wahlkampf führen, eine Euroapaabgeordnete aus der Seele der Partei, und eine Symbolfigur für die Fusion mit dem aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung erwachsenen Bündnis 90. Auf den Listenplätzen folgen die Europa-erfahrene Hiltrud Breyer, Frieder Otto Wolf vom linken Flügel, der am Europaprogramm mitgearbeitet hatte, Elisabeth Schroedter aus Potsdam, die sich für Ökologie und die Erweiterung gen Osten einsetzen will, der Agrarpolitiker Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Undine von Blottnitz, die schon fünf Jahre lang im Europäischen Parlament arbeitete, Daniel Cohn- Bendit, die Berlinerin Birgit Cramon-Daiber mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik und der in Dritte-Welt-Projekten versierte Wolfgang Kreissl-Dörfler.

Die jüngsten Ausfälle Edmund Stoibers können die Delegierten nicht überrascht haben. Verabschiedeten sie doch ein in über Monate hinweg erarbeitetes Programm, durch dessen fast fünzigseitigen Text sich wie ein roter Faden die Warnung vor einer Renationalisierung zieht. Für die Programmkommission ist sie die „größte Herausforderung am Ende des 20. Jahhrunderts“. Nur die Einbindung in Europa und eine engere Zusammenarbeit könne diesen Nationalismus eindämmen.

Ein „weiter wie bisher“ wird es mit den Bündnis-90/Grünen-Abgeordneten aber nicht geben, denn die alten Kritikpunkte sind nicht weggewischt: Als da wären die „Wohlstandsfestung Europa“, die Abschottung gegenüber dem Osten, eine Wirtschaftsordnung, deren Dogma Wachstum heißt, Handels- und Finanzstrukturen, die den Süden in Abhängigkeit halten, aber auch eine voraussehbare Verdoppelung des Verkehrs im Binnenmarkt innerhalb weniger Jahre.

Überwinden will das Programm die Defizite mit einem „Dreiklang der Reform: Gesamteuropa, Demokratie, soziale Ökologie“. Die neuen Ziele des Programms tragen auch der neuen Lage in Europa nach 1989 Rechnung. So gilt die Ost-Erweiterung der Gemeinschaft als wünschenswert, wobei über die Grenzen einer künftigen EG keine Aussagen gemacht werden: „Wir halten eine Strategie der abgestuften Integration der mittel- und osteuropäischen Reformstaaten für richtig.“

Eingeflossen sind auch die Erfahrungen der grünen Euro-Abgeordneten in Brüssel und Straßburg. Für Fehlentwicklungen wird von den Grünen nicht mehr die EG- Kommission verantwortlich gemacht, sondern nationale Regierungen, welche die Kommission für eigene Interessen mißbrauchen. Der Schlüssel für eine Demokratisierung der EG liegt laut Programm deshalb im eigenen Land. Als weiterhin wichtig gilt die Ausweitung der Rechte des Europaparlaments und die Stärkung der Regionen.

Bei der Forderung nach einem ökologischen und sozialen Umbau gilt die EG nun als unverzichtbarer Partner, dessen Steuerungsinstrumente nur genutzt werden müssen. So soll finanzielle Förderung „endlich an ökologische Kriterien der Ressourcenschonung“ gebunden werden. EG-weite Ökosteuern und -abgaben sollen die Umstellung von Produktion und Lebensweise fördern.

Den Glanzpunkt in Aachen setzte allerdings Krista Sager mit ihrem Bericht vom Scheitern der Koalitionsverhandlungen in Hamburg. „So nicht. Wer nicht will, den soll man nicht zwingen“, rief sie dem Verhandlungspartner Voscherau hinterher. Die Wahrung grüner Identität, die Krista Sager exemplarisch vorführte, wurde mit frenetischem Beifall bedacht und war auch als bundespolitisches Signal gemeint. Damit die Sozialdemokraten es auch verstehen, wurde eine Videokassette mit Krista Sagers Rede zum SPD-Parteitag nach Wiesbaden geschickt.

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