Avantgarde-Aufholjagd

■ Festival „Fließende Grenzen“: Das Moscow Contemporary Music Ensemble spielte russische Neue Musik im Studio 10

Viel zu leicht vergißt man, daß die ehemals sowjetische Musikszene bis zur Perestroika von der internationalen Avantgarde abgeschnitten war. Erst 1990 konnte in Moskau die „Vereinigung für zeitgenössische Musik“ und 1991 aus ihr hervorgehend das Moscow Contemporary Music Ensemble gegründet werden, das am Sonntag beim Festival Fließende Grenzen gastierte.

„Die Gabe“ (1991) und „Schönberg's Space“ (1993) der Russen Wladislaw Schut und Juri Kasparow demonstrierten eine starke Bezugnahme auf westliche Tradition. Schuts Trio spielt - wie viele Werke der Moderne - beharrlich mit dem B-A-C-H-Motiv, sowie einem Bach-Fugen-Thema, greift kanonische Einsätze auf und traditionelle Themenführung.

Kasparow, der mit einem kraftvollen, später ähnlich wiederkehrenden, strukturierenden Pianoauftakt beginnt, arbeitet streng in Zwölftontechnik. So wundert es auch nicht, wenn der Abend mit einem frühen Shostakovitch beginnt und das gesamte Klangbild aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu stammen scheint. Das virtuose Trio spielt mit expressivem, leidenschaftlichem Geist, ohne daß es Transparenz vermissen läßt.

Wladimir Tarnopolskis „Troiste Musiki“ bildete einen avantgardistisch-folkloristischen Exkurs und gleichfalls den Höhepunkt des Abends. Das Stück schleicht sich über das Stimmen des Instrumente ein. Tonleitern des mit zerbrochenen Bleistiften präparierten Klaviers und eigentümliche Streicherfiguren sorgen für ein indisch gefärbtes Klangbild, das später westliche Züge annimmt, auch minimalistische Elemente eines Steve Reich klingen an. Schließlich aber mündet das Stück nach erneutem, integrierten Stimmen der zwei Streicher in ukrainischer Musik: Die drei Instrumentalisten singen begleitend die dreistimmige Vertonung eines Hymnus. Tarnopolski hat das Stück nicht vollständig auskomponiert, das Trio findet in impulsiver Improvisation immer zueinander. Hiervon hätte man nach dem insgesamt gelungenen Abend gerne noch eine Zugabe gehört.

Niels Grevsen