Tausendfüßler und andere Monstrositäten

■ Anders als bei konventionellen Zeichen werden in der Bildhauerei von Richard Deacon Subjekt und Objekt nicht gespalten: Ein Gespräch mit Michael Stoeber

taz: Inwieweit haben Sie versucht, mit den beiden für die hannoversche Orangerie gearbeiteten Skulpturen auf den Raum zu reagieren?

Richard Deacon: Dieser riesige Raum stellt für jeden Bildhauer eine Herausforderung dar. Er ist wunderbar gegliedert. Er hat Weite, aber auch Intimität. Ich glaube, man kann formale Bezüge herstellen zwischen den Fenstern und meinen Arbeiten. Aber das hat sich eher zufällig so ergeben. Ich wollte keine Installation, sondern eine Skulptur.

Und inwieweit haben Sie damit einen Dialog zwischen den beiden Arbeiten angestrebt?

Durch die Dialektik von Öffnung und Verschluß. Beide Arbeiten markieren auf unterschiedliche Weise eine Grenze, während ihr Kern aufgebrochen ist. Bei der Stahlskulptur durch das Licht, das auf sie fällt; bei der Holzskulptur durch die Vielfalt der einzelnen offenen Elemente, deren Linien sich zu immer neuen Ansichten verbinden, so daß ihr Charakter vieldeutig wird. Es sei denn, Sie schauen sie von den Seiten her an, wo ihre Struktur sich schließt. Bei beiden Arbeiten zielt der konzeptuelle Ansatz auf einen skulpturalen Kern, der sich auflöst und uneindeutig wird.

Sie erheben für Ihre Arbeiten den Anspruch, daß sie beim Betrachter wie eine Sprache im Bewußtsein operieren. Natürliche Sprachen indes beruhen auf einem konventionalisierten Zeichensystem.

Ich glaube, ich bin da häufig mißverstanden worden. Was ich sagen wollte, ist, daß die Sprache zugleich subjektiv und intersubjektiv ist. Sie operiert gegen die Subjekt-Objekt-Spaltung. Eigentlich gehört sie niemandem und besitzt doch mein Bewußtsein. Sie bestimmt, wie ich die Welt erfahre. Ich meine nicht, daß die Skulptur Bedeutung generiert wie natürliche Sprachen. Aber wie die Sprache sollte sie ihren Platz finden zwischen Welt und Ich, zwischen Subjekt und Objekt.

In einem Interview mit Lynne Cooke erwähnen Sie folgenden Sprachwitz: Was bekommt man, wenn man einen Tausendfüßler und einen Papagei kreuzt? Antwort: ein Walkie-talkie. Sie weisen darauf hin, daß Sie diesen Witz bei einer Diskussion über Ihre Arbeiten gern erzählen. Warum ist dieses Beispiel für das Verständnis Ihres Werkes hilfreich?

Wegen der Art, wie hier zwei Dinge zusammengebracht werden, um ein Drittes zu erzeugen. Die biologische Monstrosität funktioniert nur über die Sprache. Der Tausendfüßler geht, der Papagei spricht. Über das Gehen und Sprechen definieren wir uns. Wie in dem Rock-'n'-Roll-Song von der „walking talking living doll“. Gleichzeitig werden komplexe Bezüge zwischen Kultur und Natur, Biologie und Technologie angesprochen.

Die Sie auch in Ihren Arbeiten thematisieren?

Ja. Wichtig sind der Begriff des Organischen, Vorstellungen über Natur und Kultur, Anspielungen auf technische Produktionsverfahren und der Versuch, diese Dinge zusammenzuführen.

Interpreten deuten Ihre Skulpturen als Kapitalismuskritik oder auch als Illustration der Heideggerschen Seinsphilosphie. Wie stehen Sie dazu?

Es gibt Skulpturen – eine befindet sich in Newcastle –, wo ich mich auf ironische Weise mit dem Phänomen der Arbeit und mit industriellen und postindustriellen Strukturen auseinandergesetzt habe. „Repetitious labour“, die sich wiederholenden Arbeitsabläufe sind ein wichtiges Element meiner Skulpturen. Sie erlauben es, die Zeit mit einzubeziehen. Irgendwann werden die ganzen Reihen der sich wiederholenden Nieten dabei zum Ornament. Sie feiern die Physis des Objektes und entheben es so jeder pragmatischen Bedeutung. Ich weiß, daß das Ornamentale in der heutigen Kunstdebatte negativ besetzt ist. Mir geht es auch eher um den Begriff der Plastizität – Dinge mit der Hand zu arbeiten und ihnen eine Gestalt zu geben, die sich konform mit einem bestimmten Weltverständnis zeigt. Darin eine Demonstration entfremdeter Arbeit zu sehen hat wohl eher etwas mit der ideologischen Armatur des Betrachters zu tun. Heidegger habe ich in den siebziger Jahren ziemlich viel gelesen und mit Michael Newman oft darüber diskutiert. Er ist ein großer Heidegger-Experte. Ich glaube, daß seine Beobachtungen nicht unangemessen sind.

Sie haben wiederholt gesagt, daß Donald Judd und Rainer Maria Rilke für Ihr Werk wichtig waren. Inwiefern?

Als ich Ende der sechziger Jahre die Kunsthochschule besuchte, waren die amerikanischen Minimalisten sehr wichtig. Judd hat uns einen neuen Materialbegriff gelehrt. Trotz der strengen Hermetik seiner Arbeiten hat er durch die Vielfalt der von ihm gewählten Materialien für jeden Bildhauer ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Meine Kritik am Minimalismus zielte auf die rigide Semantik. In dieser Situation wurden Rilkes Schriften über Rodin und Cézanne wichtig, ebenso die Sonette an Orpheus. In allem finden sich seine Vorstellungen über die Sprache und das Sprechen, das „Rühmen“ als Modus der Welterfindung.

Die Titel Ihrer Arbeiten sind bald poetisch, bald programmatisch, bieten aber keine Orientierungshilfe.

Das ist richtig. Sie sind zusätzliches Material. Aber ich finde schon, daß sie einen Bezug zu dem haben, was das Werk in meiner Vorstellung ausmacht.

Wenn Sie eine neue Skulptur arbeiten: Gibt es erst die Entscheidung für die Form oder für das Material?

Das geht Hand in Hand.

Gibt es viele Vorskizzen?

Nein, es ist eher wie eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.

Beim Blick auf Ihr Gesamtwerk hat man den Eindruck einer großen Vielfalt ohne eine eindeutige Handschrift.

Darauf lege ich keinen Wert. Jede Arbeit ist wie eine Reise ins Unbekannte, wie die Erforschung eines neuen Kontinents.

Die Ausstellung „Richard Deacon: Skulpturen 1988–1992 und zwei neue Arbeiten“ ist noch bis zum 28. November im Kunstverein Hannover, Sophienstraße 2, zu sehen.