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■ Interview mit Peter von Oertzen (69), der jetzt als Dienstältester aus dem Parteivorstand der SPD ausscheidetDer letzte Marxist geht

taz: Nach 20 Jahren zieht sich das älteste und dienstälteste Mitglied des SPD-Parteivorstandes zurück. Was geben Sie Ihren Genossen mit auf den Weg?

Peter von Oertzen: Gute Ratschläge habe ich ihnen nicht mitzugeben. Sie kennen meine Auffassungen. Sie wissen: Ich hielte eine sehr viel mehr antikapitalistische Stoßrichtung sozialdemokratischer Politik für unbedingt nötig. Aber für diese Auffassung gibt es weder im Parteivorstand noch auf dem Parteitag, noch in der Partei insgesamt eine Mehrheit.

Sie sind 1946 in die Partei eingetreten und waren bald ein Vormann der SPD-Linken. Gibt es diese SPD-Linke überhaupt noch?

Es gibt zwei unterschiedliche Begriffe von links in der SPD. Über die allgemeine Vorstellung von linker Politik läßt sich ein bißchen spöttisch sagen: Linke Sozialdemokraten sind diejenigen, die die offiziellen Beschlüsse der Parteitage ernst nehmen und sie in die Wirklichkeit umzusetzen versuchen. Zu dieser Linken im weitesten Sinne gehörte immer jemand wie Erhard Eppler, der ja viele Jahre einer der Koordinatoren des Frankfurter Kreises gewesen ist. Innerhalb dieser Linken gab es immer eine sehr viel kleinere Gruppe, die an alten, aber meiner Überzeugung nach dennoch nicht veralteten sozialistischen Positionen festgehalten hat. Dabei war der Einfluß des Marxismus mehr oder weniger stark ausgeprägt. Zu dieser Strömung zähle ich mich.

Sie berufen sich bis heute auf Karl Marx, trotz des Zusammenbruchs des realen Sozialismus?

Das ist für jüngere oder ganz junge Sozialdemokraten ein Problem. Für mich war es dies nie. Ich bin in eine marxistische Tradition hineingewachsen, die sehr stark von den Erfahrungen der Rätebewegung, von syndikalistischen, anarchistischen, also von betont freiheitlichen Ideen geprägt war. Ich habe von meinem marxistischen Standpunkt aus die Sowjetunion niemals für sozialistisch gehalten. Insoweit ist mit dem realen Sozialismus ein System zusammengebrochen, das mit dem originären von Marx und Engels und ihren Schülern entwickelten Marxismus etwa soviel zu tun hat wie Kreuzzüge, Hexenverbrennung oder Inquisition mit der Bergpredigt. Nämlich gar nichts.

Viele der heute in der SPD bestimmenden „Enkel“ sind von Juso-links kommend nach rechts an Ihnen vorbeigezogen.

Dieser Beobachtung kann ich nur zustimmen. Dies hängt sicher damit zusammen, daß die theoretischen und programmatischen Auffassungen dieser damals noch sehr jungen Juso-Führungsgeneration eben nie sehr gefestigt, theoretisch nie solide begründet waren. Dem Realitätsschock beim Eintritt in die verantwortliche Führungstätigkeit in der SPD, in die parlamentarische Arbeit oder gar in die Regierungsverantwortung haben diese Auffassungen dann nicht standgehalten. Allerdings gibt es einige aus dieser Generation, die im großen und ganzen an ihren ursprünglichen Positionen festgehalten haben: etwa Heidi Wieczorek-Zeul, die ihren einstigen Juso-Positionen heute noch sehr viel nähersteht als viele andere Ex-Juso-Aktivisten.

An Ihren einstigen Nachfolger im hannoverschen SPD-Bezirksvorsitz, den heutigen niedersächsischen Ministerpräsidenten, denken Sie nicht?

Der ist auch heute noch ein aufrichtiger und kämpferischer Verteidiger des Rechststaates. Das hängt sicher auch mit seinem Beruf als Anwalt zusammen. Aber alle diese Genossinnen und Genossen unterscheiden sich von mir dadurch, daß ich die Beschäftigung mit der Theorie und Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung von Berufs wegen betrieben habe. Daß Traditionen da verlorengegangen sind, ist auch ein Mangel an Kontinuität in der Vermittlung von Erkenntnissen. In der Politik erfindet heute jede Generation das Rad neu. Bei diesem mühsamen Geschäft gehen viele schon einmal vorhandene Einsichten wieder verloren.

Was ist verlorengegangen?

Etwa einige Grundeinsichten in die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft. Auch die SPD ist ja davon überrascht worden, daß sich in der ehemaligen DDR herausgestellt hat, daß der Kapitalismus Kapitalismus ist, auch wenn sie den blinden Glauben von CDU und FDP an die Selbstheilungskräfte der kapitalistischen Marktwirtschaft so nicht teilte. Jetzt erleben unsere armen Landsleute im Osten, nachdem sie 45 Jahre durch den sogenannten realen Sozialismus geschunden worden sind, den real existierenden Kapitalismus am eigenen Leibe. Das hätte man voraussehen können. Einige der in den letzten Jahren verlorenen Einsichten werden schon von daher wieder Gewicht bekommen. Nur zahlen wir alle zusammen dafür einen schrecklich hohen Preis.

Ihr Schriftenverzeichnis umfaßt über 500 Titel. Sie gehören zu jenen wenigen Politikern, die zugleich Theoretiker sind, haben etwa juristisch nachgewiesen, daß das Grundgesetz auch eine andere Wirtschaftsordnung zuläßt.

Diese Auffassung ist zwar immer von konservativer Seite angefochten worden. Aber auch noch heute würde die Mehrheit der Staatsrechtslehrer sagen, daß natürlich eine sozialistische Wirtschaftordnung mit den Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes vereinbar ist. Das heutige Grundgesetz könnte in diesem Sinne mit Zweidrittelmehrheit geändert werden, ohne seine Grundlagen, also die freiheitlich-demokratische Grundordnung, in Frage zu stellen.

Im übrigen gab es in früheren Zeiten eine Reihe von SPD-Politikern, die auch gleichzeitig wissenschaftlich gearbeitet haben. Heute ist mir weder aus der SPD noch aus den anderen Parteien eine Person erinnerlich, die sich immer noch aktiv an der wissenschaftlichen Diskussion beteiligt und gleichzeitig eine politische Führungsposition einnimmt.

In die SPD-Programmdiskussion der letzten Jahre haben Sie mit Aufsätzen wie „Alternativen zum Kapitalismus nicht ad acta legen“ oder „Wo bleibt der Sozialismus?“ eingegriffen. Wo bleibt der denn nun?

Da muß man, wissenschaftlich gesprochen, erst einmal eine allgemeine These operationalisieren, sie in konkrete, überprüfbare Einzelfragen und -behauptungen übersetzen. Der Sozialismus läßt sich nicht verwirklichen, wenn man nicht klipp und klar sagt, worin er im einzelnen besteht. Ein Beispiel: Die Politik wird heute zwar verantwortlich gemacht für hohe Arbeitslosigkeit und sinkende Realeinkommen, hat aber in Wirklichkeit keinen entscheidenden Einfluß auf wirtschaftliche Entwicklungsprozesse.

Investitionen in jene Bereiche der Wirtschaft zu bringen, um gesellschaftlichen oder menschlichen Bedürfnissen zu entsprechen, ist das zentrale Problem. Investiert werden müßte in Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern, in den Umweltschutz oder etwa auch in eine vernünftige Drogenpolitik. Die Behauptung, unsere Wirtschaft produziere nicht genügend Kapital, um diese Aufgaben zu lösen, ist objektiv falsch. Nach den Regeln der freien Marktwirtschaft gibt es jedoch keinen Mechanismus, der diese sinnvolle Verwendung bewirken kann. Die Gesellschaft hat sich daher andere Regeln zu geben, muß Investitionen sinnvoll lenken. Dies wäre schon ein Schritt hin zum Sozialismus.

Sie haben oft genug gesagt, hier und heute müsse man für soziale Demokratie kämpfen, denn der Sozialismus sei auf Jahrzehnte hin nicht in Sicht.

Die Verwirklichung einer eher gemäßigten sozialdemokratischen Programmatik wäre im Augenblick schon ein riesiger Fortschritt. Aber auf längere Sicht lassen sich – pathetisch gesprochen – die großen Probleme der Menschheit ohne Abkehr von den Gesetzlichkeiten der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht lösen. Auf dem gesamten Erdball ist heutzutage der Kapitalismus die herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung – auch China wird wohl bald völlig kapitalistisch sein. Dennoch leben neun Zehntel der Menschheit in Armut und ein großer Teil davon im tiefsten Elend.

Dieser immer gefährlicher werdende Zustand, der auch mit Umweltzerstörung und wachsender Kriegsgefahr in verschiedenen Regionen der Erde einhergeht, kann nicht behoben werden, wenn nicht Grundlegendes an der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geändert wird. Diese Einsicht wird unter dem Druck der sich katastrophal zuspitzenden Verhältnisse sehr viel schneller um sich greifen, als es heute mancher glaubt. Wenn ich noch neunzig werde, was ich hoffe, dann könnte ich gut die ersten Anfänge davon noch miterleben.

Wie haben Sie es denn so lange in der SPD ausgehalten?

Ich habe mich in der SPD bei vielen Menschen heimisch gefühlt, die mehr oder weniger ähnliche Auffassungen vertreten haben und deren Freundschaft, deren Loyalität und solide, zuverlässige Zusammenarbeit mein Leben bereichert haben. Außerdem habe ich mir selber und anderen immer gesagt, daß ich aus strategischen Gründen in der SPD bin. Ich habe in Deutschland keine andere Möglichkeit gesehen, praktische Politik zu betreiben, auch bei den Grünen nicht. Dort ist ein Sozialist im übrigen genauso in einer Minderheit wie in der Sozialdemokratie. Interview: Jürgen Voges

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