Männlein, Weiblein oder beides

■ Keine neue Niedlichkeit: Disneys "Aladdin" arbeitet zwar den Orient als stromlinieförmige Popkultur auf, behält aber seine uramerikanische Vorurteile gegenüber dem Märchenreich aus 1001 Nacht bei

Im Orient der Disney-Studios ist nichts mehr richtig märchenhaft, statt dessen wimmelt es von Popzitaten. Die Pallastwachen des Sultans posen als fleischige Bodyguards aus HipHop-Videos, sein Zauberer bei Hofe, Dschafar, trägt einen Lagerfeld-Zopf, und die ebenso kindfrauliche wie selbstbewußte Prinzessin Jasmin schmollt noch launenhafter als Madonna – „like a virgin, touched for the very first time.“ Der kleine Straßendieb Aladdin agiert in einer Mischung aus Tom Cruise und Elvis in seinen frühen Scheich-Filmen, und der Flaschengeist „Dschinni“ verwandelt sich je nach Gemütslage in Männlein, Weiblein oder beides. Das Geschlecht spielt austauschbare Rollen. Auch die einstmals putzigen Tiere sind alles andere als rührselige Vermenschlichungen, der Affe Abu macht taubstumme Grimassen in der Tradition von Harpo Marx, und der Papagei Jago auf der Schulter des Erzschurken intrigiert wie ein Abbild seines Namensvetters in Shakespeares „Othello“. Nichts ist mehr kindgerecht plump, jede Bewegung verläuft mit der Präzision der Wirklichkeit: Ein fliegender Teppich schlägt den staunenden Geist aus der Flasche im Blitzschach – und der vollanimierte Gegenstand grinst zurück. Es ist die Rache der Objekte, entfesselter als in den Cartoons von Tex Avery.

Eros und Anarchie beherrschen das ferne Königreich aus 1001 Nacht, auch wenn schließlich die wahre Liebe zwischen dem kleinen Gauner und der Tochter des Sultans über alle Geisterformeln und Zauber- oder Zeichentricks obsiegt. Mit der Mickey Mouse als dem besseren Menschen in der imaginären Welt von Walt hat Disney, das Unternehmen, nicht mehr viel zu schaffen. Die Heldenfiguren werden heute gestrafft für den Markt konzipiert. So wie die Schöne, das Biest oder Arielle – die kleine Meerjungfrau – muß Aladdin nicht nur perfekt tanzen, singen, flirten und teppichfliegen können, sondern auch eine brauchbare Figur als Stoffpuppe im weihnachtlichen Knuddelgeschäft abgeben. Immerhin gilt das Märchen- Musical schon vor seinem Europa- Start als der bislang erfolgreichste Disney-Film überhaupt – allein in den Staaten wurden über 200 Millionen Dollar eingespielt. Für die Hotelburg Euro-Disney bahnt sich damit womöglich ein Ende der Pleite an. Im Zuge des Orientfiebers wurde prompt ein neuer Themenpark ausgebaut, arabischer Basar inklusive.

Wandlungen, die der Gründervater von Toontown nicht so schnell mitvollzogen hätte. Walt Disney war paranoid, rassistisch, kinderfreundlich und Workaholic – der geborene Amerikaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl die Zeichentrickstudios nach seinem Tod 1966 weiterhin im Geiste von Onkel Walt geführt wurden und massenweise mit Rehen, Zwergen, positiv denkenden Volkswagen oder ungelenk tapsenden Baby-Sauriern dem Wunsch nach einer höheren Harmonie der animierten Wesen entsprachen, rutschte das Zeichentrick-Reich Anfang der achtziger Jahre ab. Umsätze gingen von 153 Millionen Dollar 1980 auf 93 Millionen im Jahr 1983 zurück. Das Interesse an Disneys Welt stagnierte – schlimmer noch: 1984 schien kein Mensch mehr an die glücklichen Märchen glauben zu wollen. Das Reale als Utopie aus nächster Nachbarschaft galt als ein weitaus größeres Abenteuer, für das Steven Spielberg und Robert Zemeckis die zielgenaueren Spezialeffekte besaßen. Erst mit Roger Rabbitt kam die neue Popästhetik nach Disneyland – Buena Vista engagierte ganz einfach das besagte Erfolgsduo und ließ sich die Images verbessern. Figuren waren nicht mehr nur niedlich, sie besaßen vor allem Geschlechter und einen ebenso vielfältigen Charakter. Der Hase war entsprechend schizophren.

Nach dem Erfolg von „Arielle“ oder „Beauty and the Beast“, die 1991 allein 5,8 Milliarden Dollar Einnahmen brachten, bleibt „Aladdin“ auf New-Deal-Kurs – keine komplizierte Story, schmusiger Soul-Soundtrack, Konfliktvermeidung. Um Ähnlichkeiten mit lebenden Tyrannen auszuschließen, wird der Sultan als ein netter alter Herr mit grauem Bart dargestellt, dessen ganze Liebe nicht dem Staatswesen, sondern trockenem Gebäck gilt, und auch der dunkle Magier bezieht seine Zaubersprüche nicht aus dem Koran. Moslems kommen im modernen Rückgriff auf den Orient nicht vor, selbst der erlöste Flaschengeist will zum Dank für die späte Gnade nicht nach Mekka, sondern träumt von Hollywood. Vor dem endgültigen Schnitt ließ man den Film sicherheitshalber nochmals von arabischen Minderheiten auf eventuelle Fauxpas überprüfen. Ein „Basic Instinct“ sollte sich nicht wiederholen. Trotzdem wurde das Bild vom Orient politisch ein wenig nach Westen korrigiert, wie die Hintergrundzeichnerin Kathy Altieri erklärt: „Wir haben versucht, die kühleren Farben – Blau und Grün – den Guten zuzuordnen. Rot, Orange und Gold, die warmen Töne, haben wir Dschafar, Jago und deren Umgebung zugeordnet.“ Harald Fricke

„Aladdin“: Produktion und Regie: John Musker, Ron Clements. USA, 1993, 90 Min.