Anhäufung von Betroffenheitsmaterial

■ Die Duisburger Filmwoche deutschsprachigen Dokumentarfilms

Haben Sie einen Feind? fragt die Fotografin und Filmemacherin Bettina Flitner zufällige Passantinnen in Straßen von Köln und Berlin. Viele Frauen antworten spontan mit ja und werden mit Spielzeugwaffen portraitiert. Insgesamt vierzehn Fotos und Geständnisse kommen so zustande: „Mein Feind ist mein Ex-Mann. In meiner Wohnung würd' ich ihn aber nicht umbringen, das gibt zuviel Dreck. Lieber in seiner, da hat er überall weißen Teppichboden. Und die Neue hätte auch was davon.“ Die Feinde – die Ex-Männer oder Ex-Freunde, Nachbarn, Kollegen, Politiker, der Papst: „Den würd' ich zum Wohle der Menschheit umbringen.“

Die Portraits mit den Originalzitaten werden in einer belebten Kölner Einkaufsstraße, der Schildergasse, aufgestellt. Die lebensgroßen Bilder führen gleich einem Passionsweg von der Straße in die Antoniterkirche. Bettina Flitner dokumentiert die Reaktionen der PassantInnen. Empörung und Wut stehen Zuspruch und Zustimmung gegenüber. „Skandal“, titelt Bild. Die Reaktionen auf der Straße werden aggressiver. Bilder werden umgestoßen, beschmiert, mit Messern zerstochen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Volksverhetzung und Beleidigung. Das Kölner Kulturamt kommt bei einer „Begehung“ wiederum zu dem Urteil, daß die Aktion Kunst und somit legitim sei. Dies sei der eigentliche Skandal, erklärt die Regisseurin nach der Vorführung. Durch diese Etikettierung werde von ihrem ursprünglichen Anliegen abgelenkt, nämlich auf höchst reale Tatbestände hinzuweisen. Ein Mann mit Waffe und Tötungsabsicht sei normal, eine Frau im gleichen Kontext gerät zum öffentlichen Ärgernis. Während dem Mann lautere Motive wie Verzweiflung konzidiert würden, unterstelle man der Frau sofort Devianz. „Mein Feind – Geschichte einer Ausstellung“ ist demnächst im WDR zu sehen.

Gewalt und deren Darstellung war eines der zentralen Themen bei der Duisburger Filmwoche. „Was darf oder soll wie gezeigt werden?“, objektiver versus subjektiver Blickwinkel und auch der Grad von Inszenierung waren die zentralen Themen in den heftig geführten Diskussionen. Die Kommentare der überwiegend aus Fachpublikum bestehenden TeilnehmerInnen verliefen sich mitunter in ermüdender Redundanz.

Heftige Reaktionen kamen auch auf den Film „Am Rande der Welt“ des Serben Goran Rebić, der die irrationale Systematik eines Bürgerkrieges am Beispiel Georgiens darstellt. Der Film wurde als zu „distanzlos“ oder als „obszöne Anhäufung von Betroffenheitsmaterial“ kritisiert. Nähe zum Leid der Menschen ist scheinbar schwer zu ertragen, und Rebić liefert auch keine Erklärung für den Mechanismus eines solchen Krieges, da er diesen selbst nicht begreift. Er zeigt Menschen, die (über-)leben wollen und wegen politischer Entscheidungen, die niemand mehr versteht, zur Waffe greifen, um damit auch auf den Nachbarn zu schießen, mit dem sie vorher friedlich zusammenlebten. Da zeigt ein Amateurfilmer seiner Mutter und deren Schwester Videobilder, wie sie auf der Straße beschossen und verwundet werden. Die Frauen verfallen nochmals in Todesangst und rechnen damit, zu sehen, wie sie gleich getötet werden, obwohl sie längst überlebt haben.

Die Identitätssuche von Immigrantenkindern in der Schweiz schildert „Babylon II“ von Samir. Die Jamaikanerin oder die Tunesierin erzählen alle in bestem Schweizerdeutsch aus ihrem Leben, aber als SchweizerInnen fühlen sich alle Portraitierten nicht. Der Film macht die Spannungen und Ambivalenzen deutlich, die durch ein Leben zwischen zwei Kulturen entstehen, zeigt den Prozeß kultureller Entwurzelung.

Österreichischen Humor bietet der Film „Malli – Artist in Residence“ von Peter Zach. Zach portraitiert den liebenswert-skurrilen Walter Malli – Hausmeister im Schloß Schönbrunn, begnadeter Saxophonvirtuose, Zeichner und passionierter Anekdotenerzähler. Eine Pointe nach der anderen sprudelt aus ihm hervor. Als er seinem Bruder Fotos zeigt, wie er ihn als Baby bemutterte, sagt er zu ihm: „Wenn i g'wußt hätt', daß du zum Rundfunk gehst, hätt' i dich zum Fenster rausg'schmissen.“ Oder: „Improvisation im Jazz ist ja nix anderes als die Aneinanderreihung von immer dem gleichen Blödsinn.“ Die Divergenz der Funktion als Kontrolleur der österreichischen Nostalgie“ und der Tätigkeit als Künstler, die „Rhythmik der Monotonie meiner Tätigkeit“ ist für Malli die Quelle künstlerischer Inspiration.

Der Dokumentarfilmpreis der deutschen Filmkritik 1993 im Wert von 4.000 Mark wurde in Duisburg an den Film „Die Wismut“ von Ex- DEFA-Regisseur Volker Koepp verliehen. Begründet wurde die Entscheidung damit, daß Koepp elegant eine dokumentarische Reportage mit Portraits verknüpfe. „Die Wismut“ ist ein Film über eine Region im Erzgebirge, die in der DDR eine verbotene Zone war. Hier wurde Uranerz für die Atombomben der UdSSR geschürft. Die Arbeiter haben dabei ihre Gesundheit ruiniert, die Region ist heute hochgradig radioaktiv verseucht. Koepp versucht mit hoher Sensibilität das Phänomen zu erklären, wie sich Menschen mit einer Arbeit arrangieren, bei der die Zerstörung der eigenen Gesundheit und Umwelt vorprogrammiert ist. Die meisten noch lebenden ehemaligen Arbeiter verdrängen dieses Problem mit einem Rückzug auf das traditionelle Arbeitsethos der erzgebirgischen Bergleute. Ein Manko des Films ist, daß Koepp mit genauen Informationen beispielsweise zum Verseuchungsgrad der Region oder dem Anteil von Zwangsarbeitern zu sehr geizt und dadurch vieles vage und unkonkret bleibt. Auch wird der Bergarbeitermythos gehegt und gepflegt, was auf Dauer etwas strapaziert. Thomas Miles