„Nicht 'mal was zu naschen drin“

■ Bescheiden und mit einem außergewöhnlichen Konzept präsentieren sich Hamburgs Turnerinnen

„Zieh!“ „Steh!“ - Die verklärt andächtige Stille der stolzen Eltern wird regelmäßig von befehlsartigen Zurufen der mitfiebernden Turnerinnen gestört. Der anschließende Applaus kommt von knapp 100 Omas, Opas, Mamas, Papas, Tanten und Onkels. Papis Videokamera hatte alles ganz genau für die Ewigkeit festgehalten und surrte auch im großen Moment der Siegerehrung monoton weiter.

Eine Großveranstaltung war es natürlich nicht am letzten Wochenende in der Turnhalle des Sportzentrums Angerstraße; die Hamburger Meisterschaften der Kunstturnerinnen blieben in einem eher bescheidenen Rahmen. Trotzdem zeigten sich die Organisatoren, allen voran Landestrainerin Vera Grymonprez-Ahlrep, sehr zufrieden. Ungefähr 80 Mädchen im Alter von 8-16 Jahren hatten am Sonnabend und Sonntag ihre Leibesübungen am Stufenbarren, Pferdsprung, Boden und Schwebebalken vor Wettkampfgerichten vollbracht und so die Besten ermittelt.

Weniger zufrieden konnten die Verantwortlichen bisher mit dem Sponsoreninteresse sein. Deshalb wurde vor zwei Jahren ein sportlich und finanziell neuartig aufgebautes Programm erdacht, das seit einem Jahr intensiv läuft: Die Eltern werden zur Kasse gebeten und zahlen für eine Trainingseinheit von zwei Stunden jetzt 15 Mark, was sich im Jahr auf 540 Mark addiert. Der Andrang ist groß wie lange nicht mehr. „Es ist schon verrückt“, sagt Karsten Bode, langjähriger Trainer bei der HNT und einfühlsamer Moderator dieser Veranstaltung. „Die Leute glauben erst an die Qualität einer Sache, wenn sie dafür bezahlen müssen. Lassen Sie doch mal kostenlos eine Ballettgruppe auftreten - da kommt kein Mensch. Wenn Sie 20 Mark nehmen, ist der Saal voll.“

Bode ist überzeugt von dem neuen Programm, das sich in verschiedene Schwierigkeitsgrade aufteilt. Ein neues Kind fängt ganz unten an und kann langsam in anspruchsvollere Stufen aufsteigen. So ein Fortschritt ist immer mit einem Test und einem Beratungsgespräch verbunden. Auf diese Weise werden spezifische Belange berücksichtigt und sollen vor allem Langzeitbelastungen minimiert werden. Die Kids erhalten eine körperliche Grundausbildung, in der sie ihren Körper kennen und beherrschen lernen. Erst dann kommen Akrobatik und Kunststücke ins Spiel. Die Verletzungsgefahr soll so sehr gering gehalten werden. Tatsächlich sehen die Übungen immer leichter, die Stürze hingegen schwerer aus, als sie in Wirklichkeit sind. Moderator Bode bekommt fast leuchtende Augen, als die Halle mal wieder in erschrecktes Raunen verfällt: „Wahnsinn. Jeder andere hätte sich verletzt, aber die sind so austrainiert, die fangen das alles ab.“

Und wie sieht er die Chancen im Vergleich auf Bundesebene ? „Luisa Ciani und Melanie Kremser werden ihre Kür turnen, ohne sich zu blamieren !“ Die vorderen Plätze bei Einzelmeisterschaften sind jedoch für die Sportlerinnen aus den Bundesleistungszentren reserviert. „Mit denen können wir nicht mithalten, aber auf den folgenden Rängen sind wir meistens ganz oben mit dabei.“ Vor zwei Jahren stellte die Stadt mit der TG Hamburg eine Mannschaft, die mit sieben anderen Teams um die Deutsche Meisterschaft stritt. Nach deren Auflösung entstand ein sportliches Loch, das nun durch geduldige Aufbauarbeit gestopft werden soll. Die Neugründung einer Frauen-Bundesliga ab 1994 könnte einen zusätzlichen Anreiz bringen.

Erwartungsgemäß waren bei diesen Meisterschaften Melanie Kremser von der Hausbruch-Neugrabener Turnerschaft (HNT) und Luisa Ciani von der Deutschen Kraftjugend (DJK) bei den älteren Mädchen vorn gelandet. Diese beiden fahren auch zur Deutschen Meisterschaft vom 9.-11.12.93 in Berlin. Desiree Ziechner (HNT), Stefanie Hübner (Lehmsaler SV) und Constanza Sanchez (TUS Berne), in den Talentfindungsprogrammen ganz oben, werden ebenfalls zu Vergleichen auf Bundesebene fahren. Richtige Meisterschaften gibt es für diese jungen Turnerinnen noch nicht. Julia Hanischmacher von der HNT wußte im schwierigen D4-Programm zu überzeugen. Beim Nachwuchs erturnten sich Stefanie Dietzel (TUS Berne), Vanessa Adamski und Maja Heller (beide HNT) die ausgesetzten – wie Keksdosen anmutenden – Trophäen.

Kinder haben ja bekanntlich viel Phantasie, und so durften die Dosen ruhig Pokale genannt werden, auch wenn bemängelt wurde, daß nicht mal „was zum Naschen“ drin war. Den notwendigen atmosphärischen Reiz eines richtigen Wettkampfes erzeugten schon die für den nicht Involvierten etwas überflüssig erscheinenden Rituale wie der musikbegleitete Einzug in die Halle oder das Vorstellen bei den Kampfrichtern.

Um die Zukunft ist Bode jedenfalls nicht bang und prophezeit dem Turnsport einen großen Aufschwung: „In Amerika sind die so crazy - die fahren Hunderte von Meilen, nur um ihre Kinder zum Kunstturnen zu bringen. Das schwappt auch zu uns herüber!“ In Hamburg sind die Entfernungen freilich etwas geringer, aber das ist ja eigentlich kein Nachteil...

Gunnar Griepentrog