Übungen in Askese

■ Heimrad Bäckers „Epitaph“ im Hebbel-Theater

Den nicht bestatteten Toten von Auschwitz mit seinen Gedichten Grabmonumente, Kenotaphe, zu errichten, war seinerzeit Teil des dichterischen Programms von Paul Celan. Lyrik als Beisetzungsort – Celan griff für seine nachträglichen Wortbestattungen auf Begriffe aus der Naturwissenschaft zurück, um über Bilder von mineralischen Einlagerungen und Gesteinssedimenten den unbehausten Seelen in den Sprachfältelungen seiner Gedichtzeilen naturgeschichtlich analoge Aufbewahrungs- und Erinnerungsorte zu schaffen.

Heimrad Bäcker dagegen, Österreicher und als Siebzehnjähriger ein begeisterter Mitläufer des „Anschlusses“, hat den Toten von Auschwitz eine andere Art nachträglicher Bestattung, eine Grabinschrift, ein Epitaph zugedacht. Absichtlich weniger kunstvoll als Celan hat er in jahrzehntelanger Arbeit einen umfangreichen, nunmehr als Buch vorliegenden Text mit dem Titel „nachschrift“ erstellt. Seine „Literatur des Zitats“ versammelt in Montageform dokumentarisches Textmaterial aus NS-Verordnungen, Transportlisten, Lagerarztprotokollen und Bittbriefen von Juden, um die ungeschminkte „Wirklichkeit der nationalsozialistischen Tötungsmaschine zu zeigen“. Bäcker reiht Zahlenlisten von Exekutionen neben Konzentrationslagerbeschreibungen, komponiert Feldpredigten mit Wandinschriften, Tagebuchaufzeichnungen Gefangener mit Beschlüssen zur Abwicklung der „Endlösung“ zu neuen, knappen Texteinheiten. Statistik wird mit Befehlssprache gleichgesetzt: Über diese syntaktisch meist zerstückelten Diskursfragmente aus Spracharchiven der NS-Zeit, über dieses „Netz schriftlicher Spuren“ wird der Ton der damaligen Zeit zu Gehör gebracht. Ob auch wirklich nahegebracht, bleibt fraglich, da Bäckers Text ob seiner Askese in Gefühls- wie in Kunstrücksichten in der Tat papieren, fern, sachlich, reiner Befund bleibt.

Unter der künstlerischen Gesamtleitung von Ronald Steckel wurde dem Text nun im Hebbel- Theater Körper und Stimme eingehaucht: Mit Studenten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ hat Steckel aus ihm eine Art Chorrezitativ für zehn Sprecher gemacht. Obwohl sprachtechnisch bewußt karg und ungekünstelt, ist ihm damit doch eine ordentliche und gut anhörbare Sprechübung für Schauspielschüler gelungen. Die statische Dramaturgie der Inszenierung, das gleichförmige Sprechen über die Rampe in den Zuschauerraum, der gleichförmige Ortswechsel der Akteure mit den einhergehenden Lichtwechseln, kurz: der monotone Rhythmus des Bühnengeschehens wie die Ausdruckslosigkeit der Sprechenden sind der Text- und Verfremdungsintention geschuldet. Während die Schauspielstudenten die Textfragmente von sichtbar austauschbaren Positionen in nüchternem Verwaltungsdeutsch aufsagen, verwandeln sie sich selbst in Paragraphen: grau, streng gekleidet, stramm dastehend – statuarische Wortträger, durch deren Sprachgitter kein Leben dringt.

Für einen Theaterabend reicht das nicht. Meine Nachbarin schlief nach 15 Minuten. Die gute Absicht agierte hilflos und alleine im Raum. Auch die gelegentlichen Positionswechsel, das gegen Ende kürzere, schnellere und rhythmisiertere Sprechen in der Gruppe ließ die Aufführung bestenfalls zu einer bekennerischen und schuldbewußten Buß- und Betveranstaltung am Vorabend des gleichnamigen Feiertages geraten: eine Übung in Askese und schlechtem Gewissen, keine Theaterinszenierung. Michaela Ott

„Epitaph“ von Heimrad Bäcker, Regie: Ronald Steckel, nächste und letzte Aufführung: heute, 23 Uhr, Hebbel-Theater, Stresemannstraße 29, Kreuzberg.