■ Press-Schlag
: Freud und Leid

Der Briefträger, der gestern erst gegen Mittag auftauchte, sah so zerzaust aus, als ob er sich mit einem Rudel Rottweiler gerauft hatte. Genauso allerdings die gesamte Bevölkerung der „Grünen Insel“. Die Fußballfeier hatte ihre Spuren hinterlassen. Der Vorabend hatte mit Häme begonnen: Als San Marino auf dem Breitwandfernseher in der Dubliner Kneipe nur acht Sekunden nach Spielbeginn ein Tor gegen England erzielte, hätte der Wirt zum ersten Mal in seinem Leben fast eine Runde spendiert. In letzter Sekunde besann er sich jedoch eines Schlechteren und vertröstete die versammelte Fangemeinde auf den Sieg der Republik Irland gegen Nordirland. Dieses Spiel begann eine Stunde später. Vor dem Anpfiff im Belfaster Windsor Park wurde lediglich die britische Nationalhymne gespielt. Darauf hatten sich beide Fußballverbände geeinigt, um die unionistischen Fans des nordirischen Teams nicht unnötig zu provozieren. Umgekehrt ertönt bei Gastspielen der Nordiren oder Engländer in Dublin kein „God Save The Queen“. Die Befürchtungen von Funktionären und Polizei, die aufgrund der politischen Situation Ausschreitungen prophezeit hatten, erwiesen sich als unbegründet: Obwohl 3.000 Leute aus dem Süden angereist waren, blieb alles friedlich. Es waren die längsten 90 Minuten im Gedächtnis der Nation. Ständig wurde das Zwischenergebnis aus Spanien eingeblendet, wo sich in der ersten Hälfte zwischen Spanien und Dänemark jedoch genausowenig tat wie in Belfast. Ein Unentschieden in beiden Spielen hätte für die irische Mannschaft das Aus bedeutet. Die Nachricht vom 1:0 für Spanien löste in der Dubliner Kneipe denn auch ein mittleres Erdbeben aus. Erwachsene Männer hüpften im Kreis und sangen „Viva Espana“. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße: Das Tor für Nordirland führte südlich der Grenze zu einem kollektiven Atemstillstand, der drei endlose Minuten währte. Dann gelang dem gerade erst eingewechselten Alan McLoughlin der Ausgleich. „Es war mein erstes Tor für die irische Mannschaft“, sagte McLoughlin und fügte hinzu: „Aber mein wichtigstes.“ Sodann bedankte er sich artig bei seinen Eltern, seiner Frau, seinen Verwandten, den Zuschauern, allen Iren und Irinnen und schließlich auch dem Trainer Jack Charlton, dem „einzigen Engländer, der am Mittwoch aufrecht gehen konnte“, wie der Independent gestern nach dem Ausscheiden des englischen Teams bemerkte.

McLoughlins Tor ist ein Vermögen wert – bis zu hundert Millionen Pfund, so glaubt der irische Fußballverband. Der Leitartikler der Irish Times war allerdings wohl schon im Delirium, als er schrieb, daß die Qualifikation der Fußballmannschaft „Massenkonsum und unternehmerische Aktivitäten“ auslösen und „das Wirtschaftswachstum untermauern“ werde. Ralf Sotscheck