Ermächtigungsgesetz für die Städte

Die neue japanische Regierung setzte gestern – 100 Tage nach Amtsantritt – ihr wichtigstes Reformwerk durch: ein Wahlgesetz gegen Korruption und Bürokratenmacht  ■ Aus Tokio Georg Blume

Welche Rolle spielte bislang in Japan das Parlament? Statt selbst Gesetze zu schreiben, hatten sich die Parlamentarier daran gewöhnt, Bürokratenentwürfe zu billigen. Man vermißte politische Debatten, für die den alten Parteien schon die qualifizierten Redner fehlten. Wichtige politische Entscheidungen trafen die greisen Parteibosse unter sich, neben ihnen schien das Parlament nur noch die demokratische Form zu wahren. Doch wer sich gestern dieser gar nicht so fernen Zustände entsann, konnte den Vorgängen im Kokkai, dem Nationalparlament, kaum folgen. Vorbei die Zeiten fester Parteizugehörigkeit. Am Donnerstag stimmten viele erstmalig nach freiem Gewissen ab und entschieden sich dabei gegen ihre Parteiführung. Erschöpft, die Bereitschaft der Parlamentarier, mit der Bürokratie zu stimmen. Das Gesetzeswerk ist im Kern nicht weniger als ein Scheidungsbrief der Politik an die sie umklammernde Bürokratie.

Vorerst aber bekommt Japan ein neues Wahlgesetz samt einer Neuregelung für die Parteifinanzierung. Das freilich genügt, um die jahrzehntelang ruhigen politischen Gewässer in einen reißenden Strom zu verwandeln. Schon in einem Jahr wird wohl keine Partei mehr den Namen verdienen, den sie heute trägt. Alle acht Parteien aus der Regierungskoalition sind zu neuen Bündnissen gezwungen, um den Auswirkungen eines neuen, wenn auch nur teilweise bestimmenden Mehrheitswahlrechts Rechnung zu tragen. Vor allem aber hat sich die „Liberaldemokratische Partei“ (LDP), die erst im August nach 38 Regierungsjahren in die Opposition wechselte, schon bei der gestrigen Abstimmung erneut gespalten. Ausgerechnet die beiden populärsten Politiker, die der LDP noch verblieben, Ex-Premier Toshiki Kaifu und der frühere Justizminister Masaharu Gotoda, enthielten sich am Donnerstag ihrer Stimme. Dreizehn weitere LDP-Abgeordnete, deren Parteiaustritt bis zum Wochenende erwartet wird, stimmten sogar für die Regierungsentwürfe. Damit setzt sich der Auflösungsprozeß der LDP überraschend schnell fort. An ihre Rückkehr zur Macht im Sinne der alten Einparteienherrschaft ist nun nicht mehr zu denken – das sicherlich ist der größte Erfolg der neuen Regierung.

Morihiro Hosokawa ist diese Woche erst hundert Tage im Amt. Umfragen bestätigen dem Regierungschef seit Wochen und zuletzt am Montag, daß kein Premierminister vor ihm je populärer war. Doch hatte Hosokawa zuvor sein politisches Überleben vom Erfolg der Wahlgesetzänderung abhängig gemacht. Nach dem gestrigen Tag wird sich langsam auch das Ausland seinen Namen merken müssen. Zwar bedürfen die gestern im Unterhaus des Kokkai verabschiedeten Gesetze in den nächsten Wochen noch der Zustimmung des Oberhauses, der japanischen Länderkammer. Doch weil dort die Mehrheitsverhältnisse für die Regierung noch günstiger ausfallen als im Unterhaus, zweifelte gestern niemand mehr an der Endgültigkeit des Reformersieges. Dafür hatte es immerhin über vier Jahre bedurft. Schon 1989 trat der damals frischgewählte Premier Toshiki Kaifu mit dem Versprechen an, „drastische“ politische Reformen zu verwirklichen. Zwei Jahre später, im Herbst 1991, war er der erste, der an der Abstimmung über ein neues Wahlgesetz scheiterte. Fortan galt das Wahlgesetz als Schlüsselreform im Kampf gegen die Korruption. Es sollte verhindern, daß Parteien mit mehreren Kandidaten im gleichen Wahlkreis antreten und die Wahlkampfkosten in die Höhe treiben.

Dennoch scheiterte der Nachfolger im Regierungssessel, Kiichi Miyazawa, in diesem Sommer auf die gleiche klägliche Weise wie sein Vorgänger. Inzwischen hatten neue Korruptionsskandale die Debatte weiter angefacht. Doch letztlich wußte die LDP, daß sie mit dem neuen Gesetz ihre eigene Herrschaft untergraben würde. Denn nach den gestrigen Beschlüssen werden auch die Wahlkreise zum ersten Mal seit 1927 umgeschrieben. Wogen bisher die Wählerstimmen auf dem LDP-treuen Land oft dreimal mehr als eine Stimme in der Stadt, sollen bei den nächsten Wahlen die neuen urbanen Schichten zumindest annähernd gleichberechtigt zum Zuge kommen. Das neue Wahlgesetz gleicht damit einem Ermächtigungsgesetz für die Städte, wobei vor allem der Einfluß des Großraums Tokio – mit seinen knapp 30 Millionen Einwohnern die größte Menschenansammlung der Welt – steigen wird.

Was dabei auf den ersten Blick als kompliziertes neues Regelwerk daherkommt, sollte zumindest den Deutschen den Zugang zur japanischen Politik erleichtern. Denn in vielen Maßnahmen knüpft das japanische Reformwerk an die deutschen Zustände an. So ist in Japan ebenfalls ein gemischtes Wahlrecht vorgesehen, in dem zukünftig 274 Abgeordnete per Direktmandat und 224 per Zweitstimme und Verhältniswahlrecht gewählt werden. Für kleine Parteien gilt eine 3-Prozent-Klausel. Darüber hinaus wollen die Japaner auch bei der Parteifinanzierung ähnlich wie die Deutschen verfahren. Jede Partei soll nach jeder Parlamentswahl pro Wählerstimme einen Betrag von drei bis vier Mark aus der Staatskasse erhalten. Damit wird in Japan erstmals die öffentliche Parteifinanzierung eingeführt – aus dem Wunsch nach Transparenz, da sich die LDP zuletzt vornehmlich aus illegalen Spenden der Großkonzerne versorgt hatte. Fragt sich nur noch, ob sich mit der Umverlegung der Finanzierung von den Produzenten auf die Verbraucher auch der Adressat japanischer Regierungspolitik entsprechend ändert.

Mit verschmitztem Blick verließ Premierminister Morihiro Hosokawa nach der Abstimmung das Parlamentsgebäude: „Wer in einem Rennen mit 100 Etappen 99 zurückgelegt hat, ist erst zur Hälfte durchs Ziel“, minderte er seine Siegeserwartungen im verbleibenden parlamentarischen Hürdenlauf. Doch überholen konnte ihn gestern keiner mehr.