Jede sechste Schweißnaht war verdächtig

Auch im AKW Philippsburg 20 Austenitstahlrohre mit Rißverdacht / Nicht nur Schweißnähte defekt, erstmals Risse in den Rohren selbst / Reaktor trotzdem wieder am Netz  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) – Die Ingenieure des Atommeilers Philippsburg I am Oberrhein hoffen, daß sie alle Risse an den Rohren ihres Meilers gefunden haben. Immerhin vierundzwanzig Nähte mit Rißverdacht sind an ausgebauten Austenitstahlrohren des Siedewasserreraktors im September und Oktober entdeckt worden. Bei rund 200 im Reaktor verbleibenden Schweißnähten habe man dagegen keine Befunde mehr festgestellt, sagte der Technische Leiter des AKW, Günter Langetepe, der taz.

Drei Risse, die nach dem Zersägen der Rohre metallographisch genau untersucht worden seien, seien bis zu sechs Millimeter tief gewesen, erläuterte Langetepe. Ein Riß war 85 Millimeter lang. In zwei Fällen hätten die Prüfer außerdem in den ausgebauten Austenit-Stahlrohren selbst Längsrisse entdeckt. Das einst als Superstahl gefeierte Material habe dort der „Temperaturwechselbeanspruchung“ nicht standgehalten.

Philippsburg I ist damit nach Brunsbüttel, Ohu I, und Würgassen der vierte Siedewasserreaktor mit rissigen austenitischen Rohrleitungssystemen. Nachdem im Frühjahr im AKW Brunsbüttel erstmals an den Schweißnähten der Austenitstahlrohre eine Vielzahl von Rissen entdeckt worden waren, reagierte die Branche nach außen mit Beschwichtigungen und nach innen mit hektischer Betriebsamkeit. Der Öffentlichkeit wurde erklärt, von solchen Rissen sei in anderen Reaktoren nichts bekannt. Gleichzeitig entschlossen sich zum Beispiel die Betreiber von Philippsburg, das Badenwerk und die Energieversorgung Schwaben (EVS), die Rohrsysteme einfach auszutauschen. Der Austausch der fehleranfälligen Zwangspumpensysteme und der 400 Meter austenitische Rohrleitungen kostete in Philippsburg rund 60 Millionen Mark.

Um künftig Risiken durch rissige Rohre auszuschließen, setzt die Industrie laut Langetepe auf „eine Optimierung der Prüfprogramme“ für die Reaktorbauteile. Diese Optimierung tut bitter not. Bei den zahlreichen Untersuchungen der vergangenen Jahre waren die Probleme niemandem aufgefallen. Noch im März hatten Langetepes Leute sich die Untersuchungsergebnisse und Röntgenbilder der vergangenen zehn Jahre erneut angesehen – ohne Ergebnis, wie der Cheftechniker einräumte. Dabei müsse er „davon ausgehen, daß die Risse zu einem gewissen Umfang im Frühjahr schon vorlagen.“

Das Stuttgarter Umweltministerium verlangt, daß sich die zuständige Reaktorsicherheitskommission (RSK) eingehender als bisher mit dem Phänomen der maroden Austenitstahlrohre befassen soll. Vor allem die Längsrisse müßten erklärt werden, dazu habe sich die RSK überhaupt noch nicht geäußert. Auch Langetepe setzt darauf, daß die RSK Klarheit „über die Entstehung der Risse“ bringt.

Vorläufig verlangt Minister Harald Schäfer (SPD) von den Betreibern des Philippsburger Reaktors auch für 1994 eine Erweiterung ihre Kontrollen. Stillegen könne man Philippsburg aber nicht. „Wir haben jetzt hundert Prozent der verbleibenden Rohrleitungen untersuchen lassen. Da waren keine weiteren Befunde“, so Ministeriumssprecher Harald Notter. Es gebe also offensichtlich keine aktuelle Sicherheitsgefahr, mit der das Ministerium das Wiederanfahren des Reaktors verhindern könnte.