SPD-Krise: Führung versagt - Basis resigniert

■ Regierungskoma und Verhandlungschaos beschleunigen den inneren Verfall der Hamburger Sozis     Von Florian Marten

Wird die müde SPD-Basis Anfang 1994 die Aufnahme ernsthafter Koalitionsverhandlungen mit Hamburgs Christunierten absegnen? Wird es 1994 einen Bonner Wahlsieger Rudolf Scharping geben? Wenn ja - werden Hamburgs BürgerInnen dann eine Neuwahl ihrer Bürgerschaft akzeptieren und dabei gar die SPD stärken? Während diese und andere Fragezeichen in den Notizblöcken einiger Berater Voscheraus bereits zu Ausrufezeichen mutieren, macht sich beim SPD-Fußvolk flügelübergreifend tiefe Resignation breit. „Es ist heute kein Spaß, in Hamburg Sozialdemokrat zu sein“, bekannte ein Insider gegenüber der taz, der - ebenso typisch wie logisch - seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will: Die kritische Intelligenz, Linke und Grüne sind verprellt, die Mitte mosert über Verhandlungschaos, Regierungsstillstand und Machtfilz, die „kleinen Leute“ erleben galoppierende Mieten, explodierende Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und einen Verhandlungszirkus im Rathaus, den sie nicht mehr nachvollziehen können.

Das grüne Herz schlägt voller Dankbarkeit

Mit dem öffentlichen Image der Hamburger SPD, schon am Wahlabend des 19. September mit häßlichen Schürfwunden verunziert, geht es stetig bergab. Systematisch verscherzten es sich Partei- und Regierungsspitze nach und nach mit fast allen Bevölkerungsgruppen. Zuerst wurde die Chance verpaßt, sich durch eine, freilich riskante, Blitzehe mit der Statt-Partei an die Spitze einer neuen Stimmung zu katapultieren. Dann demontierte die SPD mit uhrwerksartiger Präzision die Option Rot-Grün. Die SPD beschädigte dabei ihren Bürgermeister, legte die Schwächen ihres Parteivorsitzenden Helmuth Frahm bis zur Kenntlichkeit bloß und raubte ihrem linken Flügel den letzten Rest an Glaubwürdigkeit. Die Konkurrenzparteien sind's froh. Die CDU nutzte die Zeit und konnte sich unter ihrem neuen soften Strahlemann Ole von Beust etwas unter dem vernichtenden Schlag der Wahlniederlage wegducken. Die Statt-Partei labt sich gierig an tatkräftiger Sozi-Promotion. Voller Dankbarkeit schlägt auch das grüne Herz. Die GAL beendete, SPD sei dank, die Koalitionsverhandlungen mit einem klaren Punktsieg: Sie präsentierte sich als kompetent, kompromißbereit sowie regierungsfähig und baute mit Krista Sager ganz nebenbei eine inzwischen über Hamburgs Grenzen populäre Führungspersönlichkeit auf.

Der rote Fuchs sitzt selbstverschuldet in der Falle

In finsterem Schwarz-Grau dagegen verschwimmt die sozialdemokratische Zukunft. Der Flirt mit der Statt-Partei entpuppt sich als riskante Achterbahnfahrt. Eine Koalition mit der CDU, so schwant es selbst einem Günter Elste, würde die Leidensfähigkeit von Stammwählern und Parteibasis auf eine gefährliche Zerreißprobe stellen, ein zweiter Versuch mit den Grünen schließlich erhebliche Zugeständnisse verlangen. Minderheitsregierung und/oder Neuwahlen wären ein Vabanque-Spiel mit möglicherweise katastrophalem Ausgang. Kurz: Der rote Fuchs sitzt in der Falle. Die Schlupflöcher sind verstellt - eine Lage, in die sich die SPD selbst manövriert hat, wobei die Angst vor eigenem Machtverlust und eine fast alleinige Orientierung an innerparteilichen Gesichtspunkten die entscheidenden Wegmarken bildeten.

Noch am Wahlabend tauchte die SPD-Führung kollektiv ab. Statt Kursbestimmung und Orientierungsmarken funkte das Kurt-Schumacher-Haus in trauter Eintracht mit dem Amtszimmer Voscheraus Fragezeichen, Wähler- und Medienbeschimpfung. Hinter den Kulissen wurde derweil das interne SPD-Chaos organisiert. Während Voscheraus Hilfstruppen eine Blitz-Ehe mit der Statt-Partei als Befreiungsschlag gegen drohenden Machtverlust ins Visier nahmen, einige Senatoren Bunkerstellungen zur Verteidigung ihres Postens aushoben, die SPD-Rechte an Modellen zum Sturz Voscheraus bastelte und klammheimlich die große Koalition vorbereitete, nahm die SPD-Linke unter Führung ihres vordersten Fuhrmanns Helmuth Frahm ihre groß angelegte „Geheim-Operation Rot-Grün“ in Angriff. Die Marschparole lautete: Das Maul und Voscherau halten! Also: Nur mit stillem Mauscheln kann Rot-Grün eingefädelt werden! Nur mit Henning Voscherau kann Rot-Grün funktionieren! Mit persönlichen Anrufen, mit Drohungen und Beschimpfungen gelang es der linken Funktionärsriege, ihre Basis auf diesen Weg einzuschwören. Das Fußvolk hielt brav still. Jeder Kontakt zu der sich anbahnenden Bewegung Pro-Rot-Grün in der Stadt war strikt verboten.

Frahm & Co unterließen es auch ganz bewußt, sich die vielfach angebotene Unterstützung durch Beschlüsse und Voten von Parteigliederungen zu holen - ein Weg, den Voscherau vor allen anderen gefürchtet hatte. Die Sorge um Voscheraus Wohlergehen nahm teilweise geradezu groteske Züge an: Führende SPD-Funktionäre baten taz-Redakteure, nicht mehr allzu heftig „auf Voscherau zu schießen“, „bestimmte Kommentare zu unterlassen“, wollten sie nicht Mitschuld „am Scheitern von Rot-Grün“ tragen. In den Verhandlungen mit den Grünen fühlten sich die SPD-Linken zunächst vollauf bestätigt: Voscherau blieb „im Boot“, ja, er redete sogar richtig mit den Grünen! „Voscherau bewegt sich“, lautete die stolze Erfolgsmeldung. In der Begeisterung machte sich auch der linke Teil der Verhandlungscombo Voscheraus Essentials zu eigen. Voscherau: „Selbst ein Michael Sachs hat zu meinen Eckpunkten gesagt: Das sind gute Eckpunkte!“

Im Glauben, den Grünen ginge es wie den SPD-Linken lediglich um ein paar winzige Kurskorrekturen an der Senatspolitik, sozusagen um einen Kranz grüner Petersilie am Steuerrad von Handelskammer und Senatsgehege, konnten sie bis zuletzt nicht begreifen, daß die GAL zumindest in einigen Politikfeldern den Einstieg in eine wirkliche Neuorientierung verlangte. Beispiel Verkehrspolitik: Während die GAL schlicht die Verwirklichung der SPD-Parteitagsbeschlüsse für eine neue Verkehrspolitik einklagte, distanzierten sich bei der SPD selbst die Autoren (!) der Beschlüsse von ihren eigenen Vorschlägen: Die Ziele seien erst fürs nächste Jahrtausend gedacht, man dürfe sie nicht so wörtlich nehmen.

Personelle Erneuerung wird systematisch verhindert

Kein Wunder: Hamburgs SPD-Linke ist personell vergreist und politisch verschlissen. Seit Anfang der 80er Jahre agieren die gleichen Personen; Newcomer, wie etwa die smarten Erneuerer-Boys der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer JuristInnen, wurden mit freudiger Beihilfe Voscheraus systematisch am Hochkommen gehindert. Während Nachwuchs ausbleibt und die aussterbende Gattung der Jusos ihr Heil im Vorzimmer der Wandsbek-Connection sucht (Karriere über Sekretärsdienste bei SPD-Rechten), steht die SPD-Linke ohne Führungspersönlichkeit und personelle Alternativen zu Voscherau da.

Kein Wunder, daß diese Linke gegen Ende der Rot-Grün-Verhandlungen bereits einige ihrer eigenen Uralt-Forderungen (Teile Moorburgs aus dem Hafenentwicklungsplan herausnehmen, etwas mehr Ernst in Sachen Atomausstieg, mehr Geld für soziale Brennpunkte) als sensationelle „Bewegung der SPD“ in Richtung auf Grün verstanden wissen wollte. Als die Grünen mahnten, ohne ein, zwei ernsthafte Zugeständnisse würden die Verhandlungen abgebrochen, reagierte die SPD-Linke prompt. Statt etwa ihre Parteibasis in Bewegung zu setzen oder Voscherau mit neuen Vorschlägen zu konfrontieren, liefen bei grünen Spitzenpolitikern in Wiesbaden, Frankfurt und Hannover sowie bei Hamburger Realos die Telefone heiß. Am Apparat jeweils besorgte linke Hamburger Sozis, die mahnten, die Grünen müßten jetzt nachgeben, Voscherau habe sich doch bewegt, sei immerhin bereit, einen Koalitionsvertrag abzuschließen.

Ex-linke Hoffnungsträger stimmen plötzlich für rot-grau

Das grüne Nein zu diesem Ansinnen enttäuschte die linken SPD-Spitzenfunktionäre maßlos. Die Reaktion folgte umgehend: Zum Beispiel von Dorothee Stapelfeldt: 1986 als Frau und linke Hoffnungsträgerin in die Bürgerschaft gewählt, hat sie sich zäh und beharrlich als konsequente Parteisoldatin nach vorn gearbeitet. Inzwischen wird sie an dem einen oder anderen Weißweintisch bereits als potentielle zukünftige Wissenschaftssenatorin gehandelt, ein Ruf, der ihr jetzt den Aufstieg in die SPD-Verhandlungskommission eingebracht hat. In dieser Woche von ihrer Basis bei der Wahl zur Landesdelegierten für den kommenden SPD-Parteitag befragt, ob sie einer Koalition mit der Statt-Partei zustimmen wolle, kam ein unmißverständliches „Ja“! Auch der ehemalige Sozialsenator Jan Ehlers, einst erbitterter Voscherau-Gegner und erfolgreicher Bauherr des SPD-Linksfilz-Imperiums Hamburg Nord/Sozialbehörde, gibt heute die Parole aus: Mit der Statt-Partei zusammengehen, um die Große Koalition zu verhindern!

Gemeinsame Erfolglosigkeit vereint die Fraktionen

Nicht besser sieht es bei der SPD-Rechten aus: Voscherau tanzt auf einem Vulkan erboster einstiger Weggefährten, die sich heftige Sorgen um ihre persönlichen Pfründe machen und den Dolch zum Königsmord Voscheraus ständig bei sich tragen. Günter Elste beispielsweise, der sich zur persönlichen Absicherung kurz vor der Wahl seinen Geschäftsführervertrag bei der städtischen Unternehmensholding HGV vorzeit um fünf Jahre verlängern ließ, führt einen komplizierten Vielfrontenkrieg: Gegen Voscherau, Widersacher und Mitkonkurrenten im eigenen Wandsbeker Lager sowie die SPD-Linke, die im Falle von Rot-Grün die endgültige Lufthoheit in der Partei erobert hätte. Auch die SPD-Rechte leidet an personeller Auszehrung, verfügt weder über Nachwuchs-Shooting-Stars noch über altgediente Leuchttürme, die das Zeug zum Ersten Bürgermeister hätten. Günter Elste Stadtchef? Ein Gutteil der Wandsbek-Connection findet diese Aussicht absurd und lästert am Biertisch genüßlich über den „windelweichen Opportunisten“ Elste.

Eine gewisse innere Stabilität schöpft die SPD freilich aus der gemeinsamen Erfolgs- und Auswegslosigkeit. Sie bindet den Vulkantänzer Voscherau, die zerstrittene Wandsbek-Connection und die demontierte SPD-Linke mangels attraktiver Alternativen zusammen, konnte innerparteiliches Meuchelmorden bislang verhindern. Eine Auflösung der Krise ist deshalb derzeit auch nicht in Sicht. Nachdem die Krise als Regierungspartei 1988 bis 1992 die Chancen der fetten Boomjahre verschlief, 1991 in den Diätenskandal stolperte und sich anschließend der Wiedergutmachung durch eine Reform von Partei, Parlament und Verwaltung verweigerte, demonstriert sie jetzt in notgeborener Geschlossenheit den Unwillen zur Bildung einer neuen Regierung.

Diese Strategie, das räumen Mitglieder der sozialdemokratischen Führungsriege ungefragt ein, läßt sich allenfalls bis Mitte des nächsten Jahres durchhalten. Auf die Journalisten-Frage „Was dann?“ folgt wildbewegtes Achselzucken. Schau'n mer mal.