Kein Vertrauen mehr in Staat und Polizei

■ Bilanz des Bundes türkischer EinwanderInnen ein Jahr nach Mölln

Der Brandanschlag von Mölln ist jetzt ein Jahr her. Die Deutschen haben ihn verdrängt, für die hier lebenden Türken aber ist das Land seither nicht mehr dasselbe. 30 Menschen starben bisher nach Angriffen Rechtsextremer, Hunderte wurden verletzt. „Viele junge Türken“, meint Ertekin Özcan, „haben füher gesagt: Ich bin zwar kein Deutscher, aber ich bin Berliner. Das ist vorbei. Die Politiker haben sie zu Fremden gemacht.“ Ertekin Özcan und Kenan Kolat vom „Bund der EinwanderInnen aus der Türkei in Berlin- Brandenburg“ (BETB) zogen gestern die Bilanz des vergangenen Jahres: Die Rechtsextremisten träten immer ungenierter auf, die Türken seien verunsichert, und die Politiker „vertrauen auf Gott, daß Mölln nie wieder passiert“.

Das Vertrauen in die Politiker und die Polizei ist jedenfalls vielen der 150.000 Berliner Türken verlorengegangen. Der BETB, ein Dachverband mehrerer türkischer Organisationen, stellte dabei einen interessanten Trend fest: Während Trauer, Zorn und Verunsicherung die jungen Türken immer mehr auf Distanz zum deutschen Staat gehen ließen, führten sie bei der älteren Generation im Gegenteil zu einem stärkeren Drängen auf Einbürgerung. Vor den Brandanschlägen war es umgekehrt.

Ohne allzu große Hoffnung auf Gehör forderten Özcan und Kolat die Politiker zu baldigem Handeln auf. Die doppelte Staatsbürgerschaft und ein Antidiskriminierungsgesetz, wie es zum Beispiel Schweden und Holland kennen, stehen nach wie vor ganz oben auf ihrer Liste. Außerdem regte der BETB eine Gedenktafel in Berlin für alle rassistisch motivierten Taten an. Wenn Deutschland langfristig Frieden haben wolle, meinte Özcan, müsse es sich endlich darauf einrichten, daß fast alle Türken hierbleiben wollten.

Sein Eindruck jedoch: Es fehlt der politische Wille, die ausländischen Mitbürger zu integrieren. „Ebenso schnell wie die Empörung“, urteilt Kolat, der Geschäftsführer des BETB, „nahm nach Mölln die Gesprächsbereitschaft ab.“ Bestes Beispiel sei die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Bevölkerung stehe dahinter, wie eine Million Unterschriften bewiesen, die Politiker hätten das Thema aber wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. „Wegen der vielen Wahlen nächstes Jahr“, vermutet Kolat. Kai Strittmatter