Heißt „eulen“ vielleicht „allein“?

■ Jugendtheater in Berlin: Neue Produktionen der Fuzzys, des Theaters Gaukelstuhl und des Jugendtheaters Marzahn

Nähe zum Publikum und Verständlichkeit sind die Grundgesetze des Jugendtheaters, andere Regeln gibt es nicht. So reicht das Spektrum der Stücke, die in letzter Zeit Premiere hatten, von Science- fiction über den Krimi bis zum Märchen. Zeitlose Jugendthemen wie die erste Liebe oder die Suche nach Identität sind ebenso vertreten wie Aktuelles: Computersucht, die Probleme junger Türkinnen oder – im Osten – der Vormarsch des Kapitals.

Während die freien Gruppen ihre emanzipatorischen Jugendstücke häufig selbst schreiben, konzentriert sich das einzige staatliche Kinder- und Jugendtheater carrousel-Theater an der Parkaue auf politisches Literaturtheater. In den zur Zeit laufenden „Schwarzen Nächten“ sind unter anderem Stücke von Tabori und Dario Fo sowie „Frauenmonologe“ von Franca Rame zu sehen.

Nirgendwo in Deutschland wird soviel Jugendtheater gemacht wie in Berlin, und nirgendwo ist auch die Nachfrage so groß: Bis Ende dieses Jahres rechnet „Spott“, eine Vereinigung von etwa 90 freien Berliner Theatern, mit einer Million Theaterbesuchen von Jugendlichen. Kurioserweise führt die Schulverwaltung des Senats gerade diese große Nachfrage als Grund dafür an, bis Ende des Jahres kein Geld mehr für das „Theater der Schulen“ – das die Eintrittspreise für Schüler um zwei bis drei Mark verbilligt – bereitzustellen: Die Mittel seien aufgebraucht.

Dabei gibt es gerade jetzt einige für Jugendliche sehr interessante Aufführungen. Das englischsprachige Stück „Play to Win“ der Gruppe „Playtypus Theater“ springt raffiniert zwischen zwei Realitätsebenen hin und her: einem spannenden Computerspiel und dem Leben in der Außenwelt, das dem Spieler immer unerreichbarer wird.

Das Ensemble „Die Fuzzys“, das seit zehn Jahren Jugend- und Kindertheater macht und bereits „in der Wüste“, „im Weltall“ und „in der Südsee“ zu sehen war, trifft man heuer „... in der Zukunft“ (Regie: Marcelo Diaz). Sehr rosig sieht es da nicht aus. Draußen heulen die Martinshörner, einige Planquadrate hat die Obrigkeit schon evakuiert. Vier Menschen haben sich in einen Keller geflüchtet. Soviel Angst haben sie voreinander, daß ihnen alles zur Waffe wird: Ein Besen ist so gut wie eine Leiter oder eine Gabel.

Aber die vier merken schnell und fast ohne Worte, daß sie die jeweils anderen brauchen – und sei es nur, um ihnen ihre Lebenslügen zu erzählen. Die altjüngferliche Lehrerin zum Beispiel kann nicht von der Einbildung lassen, sie könne immer noch unterrichten. Ein Erdbeben habe seine Heimat zerstört, doziert sie vor dem russischen Flüchtling, der mit einem Volkslied ihre Worte zu übertönen versucht und als einziges deutsches Wort „illegal“ sagen kann. Warum, merken die anderen schnell – der Russe hat nämlich als einziger keine Haushaltsleiter bei sich, die das Versorgungsamt in unerschöpflicher Weisheit allen Bürgern ausgeteilt hat. Lebensmittel gibt es dafür keine. Die unermüdlich lesende Lehrerin muß sogar ihre Lektüre opfern und nagt sozusagen am Hungerbuch. In der äußersten Not kommen sich der Flüchtling, der pflichteifrige Briefträger, die Lehrerin und die eitle Tänzerin näher, so nahe, daß sie einander preisgeben, was sie vor sich selbst und den anderen am meisten verbergen wollten.

Wer Jugendliche über das Theater für menschliche und politische Probleme sensibilisieren will, muß sie darstellen und nicht nur vortragen. Die Angst des Flüchtlings und die Bedrohung durch eine allmächtige Bürokratie gehören ganz natürlich zu den „Fuzzys... in der Zukunft“. In dem Krimi „Äthertäter“ (Regie: Angelia Staudt) des „Theaters Gaukelstuhl“, das seit 1989 vorwiegend für Kinder und Jugendliche spielt, sind die pädagogischen Ziele dem Stück dagegen nur aufgesetzt.

Simone und ihre Freundin Tülay basteln und betreiben einen Piratensender. Wenn das rauskommt, so fürchtet Tülay, „muß ich nur noch zu Hause sitzen und die Ehre hüten“. Die Schwierigkeiten junger Türkinnen werden damit kurz angedeutet, aber nicht wirklich fühlbar, denn Tülays Verhalten und Kleidung läßt nichts von orthodoxer Erziehung erkennen. Eine Sendung widmen die Freundinnen überraschend den Walen, über die Tülay, obwohl sie gar nicht vorbereitet ist, so gut wie der Schulfunk zu erzählen weiß. Mit durchschlagendem Erfolg, wie die Gespräche der Mitschüler am nächsten Tag zeigen: „Ich find' das total Scheiße, daß die Wale ausgerottet werden!“

Den Sender findet man dagegen allgemein „superkraß-megageil“. In der Gratwanderung des Jugendtheaters zwischen jugendferner Sprache und Anbiederung an einen doch nie zu treffenden Jargon haben die „Äthertäter“ damit wohl einen Fehltritt getan. Daß Simone beharrlich Lyrik sendet, macht die Sache nicht besser. Verständnislos horcht das junge Premierenpublikum einem an Jandl angelehnten Dialog zwischen Tülay und Simone: „bist eulen?“ – „ja, bin eulen.“ Eine Zuschauerin mutmaßte laut: „Heißt das vielleicht allein?“

Das Berliner Jugendtheater findet fast ausschließlich in den zentralen Bezirken statt, obwohl gerade in den Außenbezirken besonders viele Familien leben. Neben dem carrousel-Theater an der Parkaue ist auch das „Marzahner Kinder- und Jugendtheater“ diesbezüglich eine Ausnahme: Es probt und spielt mitten in der kulturellen Ödnis rund um den S-Bahnhof Springpfuhl. Man habe es, sagt der künstlerische Leiter Horst Kolbe, mit Mühe „über die Wende gerettet“. Fast alle Darsteller sind Kinder und Jugendliche aus der Umgebung. Sie spielen routiniert, auch wenn die Schurken und Gestrauchelten etwas zu oft und exzessiv in „dämonisches“ Lachen ausbrechen.

Die Szenenfolge nach Hauffs Märchen „Das kalte Herz“, die die Gruppe der Älteren zur Zeit spielt, ist nicht mit Gewalt aktualisiert, doch sind einige Gestalten des Stücks wohl gerade Ostberlinern aus der jüngsten Vergangenheit vertraut. Der Gerichtsvollzieher im Nadelstreifenanzug zieht der Mutter des Helden Peter buchstäblich den Stuhl unterm Hintern weg. Und Peters Konkurrent, der reiche Ezechiel, tritt hier als herrlich schmieriger Versicherungsmensch mit großem Ring und Aktentasche auf, der den Vertretern gnadenlos den Wochenbericht abverlangt. Sein Credo trägt er singend vor: „Such immer das Geld, kriech ihm nach, leck auf seine Spur ...“

In seiner Vielfalt und Originalität kann das Berliner Jugendtheater mit dem „Erwachsenentheater“ durchaus konkurrieren, und mit der Nachfrage hat es wohl sogar noch weniger Probleme. Den Jugendlichen kann man nur wünschen, daß der Senat die Zuschüsse zu ihren Theaterbesuchen auf eine solidere finanzielle Basis stellt. Miriam Hoffmeyer

Adressen: carrousel-Theater an der Parkaue, Hans-Rodenberg- Platz 1, Lichtenberg, Tel.: 5533495 und 55170318

Die Fuzzys, Mariannenstr. 28, Kreuzberg, Tel.: 6126690

Platypus Theater, Charlottenstr. 97b, Mitte, Tel.: 2513992

Marzahner Kinder- und Jugendtheater, Allee der Kosmonauten 67, Tel.: 9328813

Theater Gaukelstuhl, Spielort: Ölberg-Kirche, Lausitzer Str. 28, Kreuzberg, Tel.: 7074017