Der DJ bestimmt die Musik

■ Noch nie war Tanzen so kompliziert wie heute / Bei Housemusik, Acid und Techno gibt der Beat den Ton an / Sixties-orientierter Funk und Jazz-HipHop für den guten Geschmack

Jeder Trend hat seine Nische, jedes Völkchen seinen Club. Wer new-age-lastigen Ambient-Dub sucht, muß sich durch ein Clubprogramm von bald 30 Tanzveranstaltungen pro Wochenende wühlen, bis er sein stilles Plätzchen zum Träumen findet. Am heutigen Samstag etwa wird von einer Sixties-Party im Acud bis zum HipHop-Crossover in der Darmwäsche/Knaack-Club allerlei Gemischtes geboten. Wer Sphärisches sucht, sei ans SOS in der Kollwitzstraße verwiesen.

Die DJ-Culture hat sich gegen Rock und Pop durchgesetzt: Sie wird besungen, kritisiert und mit der Love Parade einmal im Jahr zielstrebig abgefeiert. Mit HipHop, House und Techno ist der DJ zum heutigen Popstar avanciert.

Natürlich hatten Berliner Diskotheken schon lange Zeit vor dem Boom ihren festen Publikumsstamm, der mit entsprechend professionellen DJs versorgt wurde. Einen ersten Schritt zur eigenständigen Kulturform unternahm jedoch erst DJ WestBam Mitte der achtziger Jahre. Von ihm erschienen eine Reihe von Teutonic-Beat-Produktionen, die mit harter Elektronik weichere Funksoundtracks ummodelten. Trotzdem galt Dancefloor zunächst einmal nur als schöne Nebensache, und wenn WestBam im Sox auf der Oranienstraße Platten auflegte, blieben die meisten Besucher weiterhin am Tresen kleben.

All das änderte sich mit Housemusik, Acid und später Techno: Immer mehr DJs bastelten aus monotonen Rhythmen und furzenden Synthiesounds einen musikalischen Trend, der vor allem auf Massenparties funktionierte. In England uferte das ganze in Tanzmarathons von bis zu 48 Stunden aus. Der Beat dominierte, die Melodie zerrann zu purem Maschinen-Noise.

Wo aber nur der Beat den Ton angibt, finden sich immer Alternativen. Nachdem die Unterschiede zwischen Songs auf Technogroßveranstaltungen bei einer Geschwindigkeit von strammen 180 Taktschlägen – über die zweifache Pulsfrequenz – fast verschwanden, gab es genügend DJs, die mit spärlich rhythmischen Klangstrukturen konterten. Doch auch Trance hielt nicht lange: Außer Dr. Motte und Paul van Dyk sind die meisten Ambient-Experimentierer in ziemlich seichtes Fahrwasser abgedriftet.

Trotz oder gerade wegen der Stilvielfalt ist die Etablierung des Discjockeys als Musiker in den vergangenen Jahren noch stärker vorangetrieben worden. Man muß nur einmal darauf achten, welches Interesse das Publikum seinem Star anerbietet. Wenn Rok im Potsdamer Waschhaus auflegt, versammeln sich massenweise Jüngelchen um das Mischpult, die dem Meister auf die Plattenteller gaffen: Was legt er auf und vor allem wie? Dabei ist die Kunst des Scratchens seit HipHop im heutigen DJ-Alltag beinahe aus der Mode gekommen. Auf den Meisterschaften in der Londoner Royal Albert Hall sieht man zwar ab und an noch den einen oder anderen beim Handstand auf den Plattentellern, aber meistens zählt einfach nur der durchgehende Beat, und für dessen Taktmaß gibt es mittlerweile automatische Zählwerke, mit denen man das Publikum auf den richtigen Trab bringen kann.

Andererseits wird das Beat- Bombardement durch Ausläufer des HipHop wie Acid-Jazz, Sixties- orientiertem Funk und Jazz-HipHop ergänzt. Statt trockener Beats zählt hier vor allem der gute Geschmack, der Griff nach ausgefallenen Oldies, deren Beschaffung ein viel größeres Problem als die Auswahl darstellt. Muß man für ein Original von James Brown schon bis zu 600 Mark bezahlen, herrscht bei Neuerscheinungen das Gesetz der Verknappung. Mitunter finden nur fünf Exemplare der neusten Dance-Produktion aus London den Weg in die Berliner Shops, während bald 60 DJs jedes Wochenende versuchen, eine dieser raren Neuheiten zu erstehen. Die Konkurrenz wächst, auch wenn das Geschäft stagniert. Konnte man in Spitzenzeiten vor zwei Jahren als DJ noch einen Tausender in der Nacht einstecken, so sind die Preise derweil eher bei solidem Nachtschichtmaß für Tresenkräfte angelangt. Die Stars haben sich indessen längst abgesetzt und produzieren wie WestBam eigene Platten – so wie sich auch früher in der Rockmusik die Profis von der Spreu aus dem Probenkeller getrennt haben.

Richtig Jet-set will aber auch in der Szene niemand sein: Von Mo, einer der wenigen weiblichen DJs, im Elektro an der Mauerstraße organisiert, gibt sich jedes Wochenende eine Schar von knapp fünfzig Clubbern ein Stelldichein, wenn Rok, DJ Hell oder andere Stars mehr zum Spaß die winzigen Räumlichkeiten beschallen. Andere Wege gehen hier die HipHop- Animateure etwa im Boogaloo, wo DJs wieder ins Bandkonzept integriert zu Live-Musik und Rapsessions scratchen, was ein wenig einer Bewegung „zurück zu den Wurzeln“ gleichkommt – aber mit dem Vorteil, daß nicht die Musik den DJ, sondern der DJ die Musik bestimmt. Harald Fricke