Grausig, meine Herren!

Wirklich grausig diesmal. Wladimir Sorokin hat kein Herz für Jelzin und kann nicht von der Soz-art lassen. Der neue Roman bietet kultiviert schlechten Geschmack bis zum Abwinken  ■ Von Mirjam Schaub

hochmütigen, großen und schmalen Nüstern,

in ungezählten Lüsten schwelgend, langsam

und hoheitsvoll die roten Ausdünstungen

nach Herzenslust einschnüffeln wirst...?“

(Isidore Ducasse Comte de Lautréamont,

1846 bis 1870)

Nach den ersten dreißig Seiten möchte man die eigene Zunge verschlucken, keine Zeile des Buches mehr lesen.

In kaum zu überbietender Lässigkeit macht eine russische Viererbande ständig irgendwelche Leute kalt. Die Bande besteht aus dem Jüngling Serjoscha, der schönen Olga, dem autoritären Rebrow und dem perversen Alten, Genrich Iwanitsch, der auf den deutschen Nachnamen Staube hört. Der Ort der Handlung ist das Moskau der Jelzin-Ära („Mir gefällt Jelzin nicht. Er hat so einen dumpfen Gesichtsausdruck...“), später verlagert er sich in Richtung Sibirien, in das unwegsame Gelände atomarer Laboratorien. Im Stadium des Zerfalls der alten sowjetischen Welt haben Chaos, blinde Zerstörungswut und Machtintrigen das öffentliche Leben ausgehebelt. Ausgestattet mit Olgas fulminanten Schießkünsten, dem handwerklichen Geschick Staubes, Rebrows Überblick und Serjoschas Unschuld raubmorden sich die vier ungestört durch den Postsozialismus. Nacheinander müssen Serjoschas Eltern, Rebrows Mütterchen und eine Handvoll unfähiger Funktionäre im Mittleren Maschinenbau-Ministerium dran glauben. Die vier arbeiten mit außerordentlicher Präzision. Sie achten darauf, daß ihre Opfer mit dem Ausdruck seliger Verklärung auf dem Gesicht krepieren. Mit Tränengas, Drahtschlingen oder Olgas Schalldämpferpistole töten sie im formvollendeten Gestus der Höflichkeit. Anschließend werden die Leichen mit einer Elektrosäge zerlegt und ausgenommen. Rebrows Mütterchen wird verflüssigt und in einen präparierten Koffer gegossen, der die vier fortan begleiten wird.

Die ohne jede Beteiligung geschilderten, offensichtlich selbstverständlichen Greuel dienen, wie es scheint, einem technischen Endzweck: Organische Materie wird in anorganische transformiert, taugt zuletzt als Kern, Zwischenblock, Segment oder Gleitmittel. In einem sibirischen Betonschacht im atomaren Sperrbezirk läßt sich das Gerät sinnstiftend in eine hyperreale „Pneumovorrichtung“ einfügen: Eine Presse, die das, was von der Viererbande nach diversen Folterungen übriggeblieben ist, zermalmt, ihre „gepreßten und gefrorenen Herzen“ als Spielwürfel auf das „Eisfeld mit der gefrorenen Schicht flüssiger Mutter“ auswirft und zum Stillstand bringt.

Ist das nicht starker Tobak, schizoides Gestammel, bestenfalls surrealistischer Kitsch? Filmversierte LeserInnen könnten glauben, sich mitten in den Kulissen des amerikanischen KGB-Thrillers „Gorki Park“ zu bewegen, um anschließend ungläubig auf Dialogfetzen wie aus „Henry. A Portrait of a Serial Killer“ zu stoßen. Das neue Buch von Wladimir Sorokin bewegt sich zwischen Politposse und Kammerstück. Sorokin behauptet von sich seit jeher, „keine gesellschaftlichen Interessen“ zu verfolgen. Für den gelernten Ingenieur der Petrochemie und späteren Buchillustrator gibt es, wie er in einem taz-Interview vor zwei Jahren gestand, „keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Joyce und der Zeitung Prawda, zwischen Michelangelo und Arno Breker. Ich kann mich von vielem bezaubern lassen.“

Seine Bezauberung ist von sehr eigener Natur. Abgetrennt von der Gesellschaft, als Literat im Untergrund, beobachtet er die Welt aus der Pose des Außerirdischen. Mit einer Haltung der Gleichgültigkeit macht er sich sein Spielmaterial ästhetisch gefügig, literarisch unbegrenzt verwertbar. Nicht behindert durch das Diktat der guten Meinung oder Moral, verquirlt er russische Kulturgüter (zum Beispiel die Gedichte der Achmatowa), sozialistische Klischees (Arbeiter, Komsomolzen, Funktionäre) mit dem Sprachjargon von Dissidenten und Kretins. Vor dem breiten Hintergrund aus Gogol, Platonow, Turgenjew, Nabokov, Chlebnikow und Charms züchteten er und andere Künstler jenen Stil, der sich Soz-art nennt, ein Hybrid aus Sozrealismus und Pop-art. Das Konzept der Soz-art „gedieh“ als geschichtlich bedingtes besonders gut auf dem Boden der totalitären Verhältnisse. Wer sich – wie Sorokin – des sozialistischen Realismus nur noch strategisch bediente, um dann das tadellose Gruppenbild mit dem einen oder anderen obszönen Detail zu verschandeln, tat dies immer mit Blick auf den noch existierenden Überstaat. Sorokins literarische Zersetzungsarbeit verließ nie das Trümmerfeld des Totalitären. Einen Rest dieser Ordnung brauchte es, um die waghalsigen Stilspiele zu motiveren und zusammenzuhalten.

„Die Herzen der Vier“ ist nun in vieler Hinsicht noch sperriger, problematischer und nervtötender als Sorokins frühere Werke („Die Schlange“, „Der Obelisk“, „Marinas dreißigste Liebe“, „Ein Monat in Dachau“). Extreme Ästhetisierung und Verfremdung retteten bislang über so manches geschilderte Greuel und sicherten das Lesevergnügen gegen Langeweile ab. Mittlerweile aber haben die Ereignisse in Rußland die Strategie der Soz-art selbst unterminiert. Die Strategie hat ihren Zielpunkt verloren in genau dem Moment, da der alte Staatsapparat in ungezählte Einzelteile zerfällt, die bald keinen Rückschluß mehr auf das Ganze liefern werden. Übrig bleiben Versatzstücke, die beliebig kombinierbar sind.

Wladimir Sorokin weiß das selbst am besten. In den „Herzen der Vier“, 1991 in Moskau geschrieben und von Thomas Wiedling sorgsam ins Deutsche übersetzt, thematisiert und provoziert Sorokin das Ende dieser Kunst des Übergangs. In diesem Buch gerät die Grausamkeit weniger wonnevoll, die Gewalt ist nicht mehr herrlich, sondern rauh und nackt. Um die Deformation des öffentlichen Lebens zu zeigen, hat Sorokin es bislang in de Sadescher Sprache in sexuelle Perversion des Privaten übersetzt. Doch in dem Moment, in dem das totalitäre Bezugssystem verlorengeht, müssen auch die exorzistischen Ausschweifungen ihren höheren Sinn verlieren. Die ausgetüftelte Kombinatorik zeigt sich hier als ein Spiel mit endlichen Möglichkeiten. Die Langeweile der Stellungen und Varianten (bis zum Essen von Kot) ist nur die logische Folge des freien Spiels der Kräfte. Der herrenlosen Viererbande in Sorokins Roman bleibt blinder Aktionismus, im Namen keines Ziels sind sie zu Leichenfledderern geworden. Die Logik, der ihre Morde folgen, ist nur noch die mathematische Kombinatorik eines Würfelspiels. Passagenweise läßt Sorokin seine vier die weiteren Pläne „auswürfeln“, der Verlag gestaltet den Einband als Spielkarte – adrette rote Herzchen in allen vier Ecken. Der größte Teil der Handlung bleibt für die LeserInnen notwendig unmotiviert, sinnlos, langweilig. Das Buch mißachtet die Minimalbedingungen der Lesbarkeit. Wer kann Zahlenreihen systematisch in Bedeutung übersetzen? Vielleicht ein Kabbalist. Das heißt, Wladimir Sorokin ist mystisches Geheimwissen wahrscheinlich vertraut. (Schließlich hat der Autor einen guten Freund, der glaubt, wenn er mit dreizehn Exemplaren des „Archipel Gulag“ in der Tasche dreizehnmal um den Moskauer Ring fahre, müsse der Kreml einstürzen.)

Wenn Sorokin mit dem „Herzen der Vier“ also – pathetisch gesagt – die letzte Karte der Soz-art ausspielt, dann ist es zumindest ein Joker. Stärker noch als in seinen anderen Büchern sind hier die geschilderten Rituale ausgemalt; insbesondere die Initiationsriten sind mehr als ein skurriler Einfall. Wie ein dürres, sperriges Gerippe stehen sie quer zum Text, der sich um Haaresbreite in glatten Spielzügen erschöpft. Nach dem Mord an seinen Eltern beispielsweise wird der Knabe Serjoscha in den Kreis der Vier eingeweiht. Er darf, wie alle anderen auch, die abgetrennte Eichel seines Vaters lutschen. „Olga holte die Pistole heraus, entnahm ein Magazin, lud die vier fehlenden Patronen nach. Serjoscha betrachtete die Eichel. – Komm, du sollst richtig lutschen. – Olga spannte die Waffe. Der Junge steckte die Eichel wieder in den Mund, begann das Krokodil in den Händen zu drehen. – Ich war heute auf dem Tscheremuski-Markt, meinte Rebrow. – Teuer? fragte Staube. – Fleisch zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig. Eingelegte Gurken – sieben. Birnen – zehn. – Ja, Staube schüttelte den Kopf, Wucher. – Hast du Rosen gekauft? – Olga steckte die Pistole weg. – Ja.“

„Nur wenige werden diese bittere Frucht gefahrlos genießen“, würde wohl der Comte de Lautréamont dazu sagen – wäre er nicht so beklagenswert früh gestorben.

Wladimir Sorokin: „Die Herzen der Vier. Roman“. Aus dem Russischen von Thomas Wiedling (Welterstausgabe). Haffmans Verlag, 200 Seiten, geb., 29DM

Der Autor wird nächsten Donnerstag, den 25.11., um 20 Uhr im Berliner Literaturhaus (Fasanenstraße 23) aus dem Roman lesen.

„Wer sagt dir, daß du nicht mit deinen