Die Bürde des weißen Mannes

Wer ist schuld an der Misere der Dritten Welt? – zwei entgegengesetzte Positionen  ■ Von Kurt Hübner

Die noch Anfang der achtziger Jahre in kleinen akademischen Zirkeln gehandelte Rede vom „Ende der Dritten Welt“ ist heute zu einem Allgemeinplatz geworden. Nicht nur, daß ehedem linke und linksliberale Köpfe der Solidaritätsbewegungen ernsthaft Vorschläge für eine Treuhandschaft einer entmündigten oder noch zu entmündigenden Dritten Welt unterbreiten und sich mit der Formel der Herstellung zivilgesellschaftlicher Verhältnisse für formale UNO-Interventionen in allen Teilen außerhalb der OECD-Welt stark machen.

In der Dritten Welt, wie auch in der Ersten Welt der entwickelten kapitalistischen Metropolen und der Zweiten Welt des real existierenden Sozialismus, haben sich in den letzten fünfundvierzig Jahren tiefgreifende Differenzierungen vollzogen, die es nicht länger angemessen erscheinen lassen, Gesellschaften wie etwa die Burundis oder Zaires unter dem gleichen Label zu rubrizieren wie beispielsweise Brasilien, Hongkong oder Südkorea.

Furiose Faktenschau, erfrischende Polemik

Dieser Tatbestand darf heute als wenig strittig bezeichnet werden. Allerdings sollte eine solche Anerkennung von Realitäten nicht dazu führen, die ökonomischen und sozialen Disparitäten der Weltgesellschaft zu verdrängen. Mit der faktischen Differenzierung der Dritten Welt nicht Schritt gehalten haben eine ganze Reihe von – mehr oder weniger stark theoretisch fundierten – Vorstellungen über das Verhältnis des einen (reichen) Fünftels der Menschheit zu den (armen) vier Fünfteln der Weltbevölkerung: „Daß wir auf Kosten der Dritten Welt leben“, so Siegfried Kohlhammer in seinem erfrischend polemischen Essay, „daß unser Reichtum auf dem Elend und der Ausbeutung der Dritten Welt beruht“, zähle nach wie vor zur sozialpsychologischen Grundausstattung all der edlen Seelen in den kapitalistischen Metropolen der Welt. Dies speise sich nicht aus Fakten, sondern verdanke sich „tiefverwurzelten Schuldgefühlen und moralischer Einschüchterung sowie einem Meinungsklima politisch-moralischer Korrektheit“. Die These von der Ausbeutung der Dritten durch die Erste Welt sei empirisch falsch und würde darüber hinaus, wenn auch unfreiwillig, eine entwicklungshemmende Politik in den Entwicklungs- wie in den Industrielndern befördern.

Nachgerade einen gegenteiligen Befund liefert die jüngste Arbeit des Amerikaners Noam Chomsky, der in seiner umfänglichen Abhandlung über „Wirtschaft und Gewalt“ den historischen Nachweis einer inneren Logik und eines (blut)roten Bandes von Kolonialismus und Neuer Weltordnung zu erbringen versucht. Die abhängige Nutzung der Dritten durch die Erste Welt, insbesondere die USA, wird von Chomsky in einer furiosen Faktenschau der US-dominierten Geschichte des kapitalistischen Weltsystems demonstriert.

Beide Bücher könnten nicht unterschiedlicher sein. Die – gleichsam kontradiktorisch – mit einem Nachwort des Cap-Anamur-Chefs Rupert Neudeck versehene Kohlhammer-Schrift macht sich mit Elan daran, die allgemein bekannten Thesen einer Ausbeutung der Dritten Welt anhand einer Auswertung empirischer Untersuchungen für den Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg zu widerlegen. Chomsky wiederum beginnt mit der Entdeckung und Ausplünderung Amerikas im späten 15. Jahrhundert und arbeitet sich über vierhundert Seiten vor bis zur Identifizierung von Strukturen der Dritten Welt im eigenen Land, den USA.

Beide Bücher weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf: Sie verzichten auf jeden expliziten Theoriebezug und arbeiten sich am historischen Material ab. Die Aufbereitung und die Interpretation des jeweiligen historischen Materials könnten freilich unterschiedlicher nicht ausfallen. Kohlhammer konfrontiert gängige Ausbeutungsthesen mit einer Fülle statistischen Materials und einer Vielzahl von Fallstudien, um daraus den Schluß zu ziehen, daß Ausbeutung nicht stattfindet und nicht externe, sondern interne Gründe für die unzureichende Entwicklung einer Großzahl der Drittweltökonomien verantwortlich zeichnen: Die politischen Klassen der Entwicklungsländer, so seine These, verhinderten durch labyrinthische Zollregelungen, durch Marktregulierungen, mit dem Betrieb der Gelddruckmaschinen, überbewerteten Währungen und einer hypertrophen Bürokratie jede Entwicklung und bereicherten allein sich und ihre Klientel.

In seinem argumentativen Schwung geht er sogar so weit, die Anfang der achtziger Jahre aufbrechende Krise der Auslandsverschuldung von Ländern wie Brasilien und Mexiko als planvolle Akte zu interpretieren, eingeleitet von Leuten, die von den Krediten profitieren und den damit verbundenen Schuldendienst abwälzen auf die breite Massen der Bevölkerung.

Eine nahezu entgegengesetzte Argumentation findet sich bei Chomsky, der die Verwandlung eines so begünstigten und reich ausgestatteten Landes wie Brasilien zu einem ökonomischen und sozialen Alptraum als Resultat von über vier Jahrzehnten US-amerikanischer Dominanz und Vormundschaft bewertet. Nicht brasilianische polit-ökonomische oder militärische Eliten, sondern politische Planungsstrategen aus Washington D.C. zeichneten für das Desaster verantwortlich. Die Anfänge der US-amerikanischen Vereinnahmungs- und Penetrationspolitik sieht Chomsky in der panamerikanischen Konferenz des Jahres 1889, auf der eine umfassende Strategie zur Verdrängung der europäischen Konkurrenz und zur Umlenkung US-amerikanischen Handels in Richtung lateinamerikanische Märkte entworfen wurde. Eine Brückenkopffunktion sollte dabei Brasilien einnehmen, nicht zuletzt wegen seines gigantischen Ressourcenreichtums. Was die USA avisierten, so Chomsky, „war eine neokoloniale Beziehung, in der Brasilien die amerikanische Industrie mit Rohstoffen versorgen und die Vereinigten Staaten Brasilien mit Fertigprodukten beliefern“ sollten.

Zur Durchsetzung dieser strategischen Zielsetzung war den USA jedes Mittel recht. Eine Schlüsselstellung sollte das brasilianische Militär einnehmen, das die US- Strategen bereits in den fünfziger Jahren zum „Beschützer der Demokratie“ kürten. Mit bemerkenswertem Erfolg, wie man weiß: Die Generäle stürzten 1964 die demokratisch gewählte Goulan-Regierung, die ihnen wie den USA wegen ihrer sozialpolitischen Zielsetzungen und ihres wirtschaftspolitischen Nationalismus ein Dorn im Auge war, und errichteten einen Staat, in dem Folter und Unterdrückung herrschten – und zugleich in technokratischer Manier gewaltige staatliche Industrialisierungsprojekte angeschoben wurden, die man durch horrende Auslandskredite finanzierte.

Die für Brasilien von Chomsky beklagte und mit der Durchsetzung des neoliberalen Politikprojektes der USA begründete, „in der Welt fast einmalige Ungleichheit in der Einkommensverteilung“ wird von Kohlhammer mit eindrucksvollen Zahlen belegt. Ihm zufolge ist dies freilich in erster Linie das Resultat einer ungebremsten Bereicherungspolitik der politischen Klasse. Das Jahreseinkommen des reichsten Fünftels der Bevölkerung belief sich 1985 auf das Sechsundzwanzigfache des ärmsten Fünftels. Ein Parlamentarier im brasilianischen Nordosten, der ärmsten Region des Landes, verdiene mit 11.000 US-Dollar mehr als ein Kongreßabgeordneter oder als europäische Volksvertreter.

Ähnlich unterschiedlich bewerten Chomsky und Kohlhammer die von beiden beklagten Folterungen von Straßenkindern, die Sklavenarbeit in Minen und Haziendas, die Form der bonded labor, Massenepidemien und Hungersnöte. Während Kohlhammer solche Erscheinungen als direktes wie indirektes Ergebnis einer strukturellen Korruption der kleptokratischen Patronagesysteme, wie man sie überall in solchen Ländern finde, interpretiert, sind sie für Chomsky der Ausdruck eines weltmachtorientierten Politikprojektes der USA – der nach 1945 ins Werk gesetzten „Neuen Weltordnung“ –, das die Installierung abhängiger kapitalistischer Strukturen in möglichst allen Teilen der Welt über die Erfüllung jeder demokratischen Norm erhob.

Die seit langer Zeit verfolgte Politik einer counter insurgency von CIA und regierungsnaher brain trusts sowie Massenmedien, die alle habhaften Akteure von Drittweltstaaten für das US-Projekt wahlweise zu instrumentalisieren oder auszuschalten wußte, habe die politischen, sozialen und ökonomischen Deformationen gezielt erzeugt.

Auf den ersten Blick könnte man solch unterschiedliche Interpretationen ansonsten geteilter Sachverhalte auf die entwicklungstheoretisch bekannte Dichotomie von externen und internen Gründen der Nichtentwicklung zurückführen. Allerdings würde man Chomsky mit einer solchen Reduktion unrecht tun. Seine Absichten wie seine Argumentationen sind vielschichtiger und verschlungener.

Mit seiner detaillierten Beschreibung einer Vielzahl kolonialistischer wie neokolonialistischer Politikprojekte der USA versucht er den Nachweis zu führen, daß die politische Klasse der USA, unabhängig von ihrer parteilichen Zusammensetzung, eine Mission verfolgt, die ihre Wurzeln in der Siedlerökonomie und der Vertreibung und Beinahe-Ausrottung der Indianer hat. Für „die Aufgabe, Bäume und Indianer zu fällen und die natürlichen Grenzen auszubauen“, so Chomsky, waren alle politischen, ökonomischen, ideologischen und militärischen Mittel recht. Manifest Destiny, der Glaube an die wesenseigene Berechtigung des US-amerikanischen Expansionismus, ist Chomsky zufolge der Antrieb einer weltweiten Unterordnungspolitik, die, kombiniert mit langfristigen wirtschaftlichen Interessen, jede Intervention in andere Nationalstaaten und jede Verletzung souveräner Rechte rechtfertigt, ja sogar moralisch erforderlich macht.

Ausbeutung, Unterdrückung, Abhängigkeit, Verelendung, Diktatur – alles ist für Chomsky das intendierte oder nichtintendierte Resultat politisch-ökonomischer Strategien der Planungsstäbe von Staat und Konzernen. Das vom Autor zum Beleg ausgebreitete historisch-empirische Material ist beeindruckend. Dennoch muß die Frage gestellt werden, ob die These einer umfassenden langfristigen Planung und Durchsetzung des Projekts einer „Neuen Weltordnung“ tatsächlich ausreicht, um die sich historisch wandelnden Formen der politischen wie ökonomischen Abhängigkeit der kapitalistischen Peripherie zu erklären. Und inwieweit sie auch für Fälle wie die der südostasiatischen Schwellenländer, gegenüber denen die USA seit den achtziger Jahren enorme Handelsbilanzdefizite aufweisen, tragfähig ist.

Sein Verfahren, die Klassen- und Machtverhältnisse in den peripheren Staaten als black box zu behandeln, läßt an der Tragfähigkeit der Interpretation zweifeln. Seine rigoros vertretene Planungsthese wiederum schließt das Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie, zwischen ökonomischen Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen und politischen Interessen von Regierung und staatlichen Organisationen, kurz. Der Verzicht auf genauere theoretische Begründungen des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie schlägt – wie bei Kohlhammer – auf den Autor selbst zurück.

Noam Chomsky: „Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur Neuen Weltordnung“. Dietrich zu Klampen Verlag 1993, 438 Seiten, 58 DM

Siegfried Kohlhammer: „Auf Kosten der Dritten Welt?“ Steidl Verlag, Göttingen 1993, 176 Seiten broschiert, 20 DM

Der Rezensent arbeitet am Politologischen Institut der FU Berlin.