Lest jedenfalls mehr Puschkin!

■ „Eugen Onegin“, das Zauberwerk des Schwülstlings Tschaikowskij, am Goetheplatz inszeniert von Karoline Gruber

Für diejenigen Musikfreunde, die den Peter Tschaikowskij so überhaupt nicht leiden können, gleichwohl am Musikleben teilhaben wollen, ist das Jahr 1993 eine harte Prüfung. Der Meister ist vor 100 Jahren von der Cholera dahingerafft worden und verstopft daher zur Zeit Konzert- und Rundfunkprogramme.

Und doch habe ich mich auf dieses Jahr gefreut, konnte doch kein Musiktheater umhin, zumindest „Eugen Onegin“ nach Puschkins berühmten Versroman auf die Bühne zu bringen. Für mich ist es immer wieder unbegreiflich, wie Tschaikowskij, der mit seinen schwülstigen, egomanen sinfonischen Seelenergüssen den Publikumsgeschmack dauerhaft geschädigt hat, eine so zauberhafte, melancholische und ein bißchen naive Oper hat schreiben können.

Deren Story ist schnell erzählt: Der Petersburger Dandy Onegin tritt sein unverdientes Erbe als Gutsbesitzer an. Lenskij, sein Freund, ein jugendbewegter Poet, macht ihm mit den Töchtern des Nachbarn bekannt. Tatjana, die weniger Hübsche, sich in Romanen Vergrabende bekennt mit emphatischem Brief dem Onegin ihre Liebe. Der adlige Nichtsnutz aber fürchtet die Ehe als zu anstrengend und weist sie ab. Dafür vergnügt er sich mit der Schwester Olga, was, da sie die Verlobte Lenskijs ist, folgerichtig zum Duell der Freunde führt. Lenskij überlebt es nicht, und Onegin macht sich aus dem Staube. Nach Jahren findet ein gereifter Onegin eine gereifte Tanja wieder. Nun will er sie, aber sie ihn - wir sind in Rußland - nicht mehr.

Tschaikowskijs operngerechte Umsetzung des Puschkintextes ist so unproblematisch nicht. Fast alles geht verloren, was den Roman so unvergleichlich macht. Puschkin ergreift im Onegin die Gelegenheit, mit der eigenen Klasse abzurechnen. Mit Ironie, mit Hohn und Spott überzieht er die Hauptpersonen, und trotzdem entstehen liebenswerte Personen, denen der Leser am Ende nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer verschütteten Möglichkeiten nachtrauert.

Puschkin schickt Onegin auf die Suche nach sich selbst durch sein im autokratischen Feudalismus erstickendes Vaterland. Onegin findet am Ende zwar nicht zu Tanja, immerhin aber zu offenem Protest gegen dieses Rußland.

Seit den zwanzige Jahren müht sich das „Regietheater“ von Stanislawskij bis Dreesen, der Tschaikowskj-Oper die puschkinschen Tiefendimensionen zurückzugeben. In Bremen mühten sich Karoline Gruber, Regie, und Notker Schweikhart, Ausstattung, darum. Der erhoffte „Qualitätssprung“ ist allerdings ausgeblieben. Puschkin bleibt zumeist verborgen; und da, wo er bemüht wird, erhellt er nichts. Z.B. Tanjas Liebesbrief: Puschkins Leser weiß, daß dessen poetische Kraft die Folge des Zusammenpralls zwischen Tanjas erwachenden Gefühlen und ihren Lesefrüchten ist. Der Leser gewinnt Distanz und wird gleichwohl überwältigt. Karoline Gruber läßt ihre Tanja ihren Text aus Büchern zusammenklauben, vom Bett zum Akleidezimmer und zurück in ihre Bücherecke wandernd. Die Szene zerbricht, der musikalische und textliche Zusammenhang geht verloren, Theresa Waldner wird so beliebig auf der Bühne verschoben, daß auch sie den Faden verliert.

Das passende Bild zur Szene allerdings gab's durchaus, allerdings schon vorher, zum Vorspiel. Tanja im Bühnenhimmel schwebend, schreibend, dem Alltag entronnen.

Der 2. Akt gelang szenisch viel besser. Im auf Geometrie angelegten Bühnenbild entflammte ein hitziger Dorfball; die Duellszene beeindruckte in ihrer lakonische Melancholie. Die Zeichnung der Protagonisten allerdings war daneben: Onegin wurde zum brutalen Macho, Olga zum Flittchen und Tatjana blieb ohne Entwicklung nur das Opfer. Nur Lenskij erhält ein flaches Profil, wie es dem Text und der Musik entspricht.

Innerhalb dieses Charakterisierungskonzepts fanden die Personen kaum zu glaubwürdigen Spiel. Sie blieben doch eher Schachfiguren, die beliebig plaziert wurden. Nur David Hibbard, der die Partie des gutmütigen, eher dummen Fürsten Grjemin singt, konnte das sein, was er sein sollte.

Was die musikalische Realisierung angeht, war der Eindruck uneinheitlich. Ira Levin am Pulte drängte das philharmonische Staatsorchester zu zügigem und kammermusikalisch aufgehelltem Musizieren. Allerdings trübten Unsicherheiten im Streicherapparat die Freude am luftigen Spiel der Holzbläser.

So ergeht es dieser Inszenierung ein bißchen wie den Figuren in Puschkins Roman: Wir können sie nicht lieben für das, was sie uns zeigte, sondern allenfalls für das, was sie auch hätte sein können.

Mario Nitsche