Bojen von Sinn im Spielozean

Außen klassische Moderne, innen endloses Driften im endlosen Material: Heute vor 25 Jahren erschien das „Weiße Album“ der Beatles – die Geburt der Ironie aus dem Geist der Popmusik  ■ Von Markus Barth

Auf den ersten Blick erscheint es wie ein rundes Werk. Am Anfang startet ein Düsenjet: Aha, denkt man, jetzt geht's ab. Am Schluß sagt jemand: „Good night everybody“, und man weiß: Jetzt ist es zu Ende. So wird eine geschlossene Form suggeriert.

Auch die äußere Erscheinung sollte genau diesen Eindruck von Klassizität erwecken. Nach dem epochemachenden hyperbunten Cover des Meisterstücks „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ (1967) erschien am 22. November 1968 ein Beatles-Album mit edler Zurückhaltung in der Nichtfarbe Weiß. Auf der Vorderseite war auf die leere Fläche „The BEATLES“ – der schlichte, offizielle Titel – gestanzt, mehr fühl- als sichtbar. Klappte man das Doppelalbum auf, sah man links die vornehm grau gedruckten Titel und rechts vier schwarzweiße Porträtfotos der Musiker: Ernste Künstler schauen dich an. Der fun von einst scheint vorbei.

Diese seriöse Verpackung im Stil der klassischen Moderne erwies sich beim Hören dann allerdings als pure Ironie. Niemals in der Geschichte der Popmusik hatte eine Produktion einen bunteren, uneinheitlicheren Inhalt. Die Stärke der Beatles war gewiß schon bis dahin ihre autodidaktische Unverschämtheit: Alles, was ihnen brauchbar erschien, adaptierten sie, und es klang, als hätten sie es gerade erfunden. Auf dem „Weißen Album“ erreicht dieser genialische Eklektizismus seinen Höhepunkt.

Jedes der dreißig Stücke steht für sich selbst – und wird doch in der Nachbarschaft mit den anderen sofort relativiert: der Rocker „Back in the U.S.S.R.“ und das Kammerstück „Blackbird“, die zynische Ballade „Sexy Sadie“ und die (scheinbar) naive Vorstadt- Idylle „Ob-la-di Ob-la-da“, die surrealistische Phantasie „Cry Baby Cry“ und der elegische Hymnus an das repräsentative Instrument der Zeit „While my Guitar Gently Weeps“, die Gesellschaftsallegorie „Piggies“ und das selbstbezüglich-sarkastische „Glass Onion“.

Die Stücke leben von der Konkurrenz miteinander. Es gibt hier nicht nur die hinlänglich kommentierte Spannung zwischen John Lennon und Paul McCartney. Auch George Harrison schaltet sich mit seinen vier wohl bedeutendsten Stücken ein. Selbst Ringo Starr darf hier erstmals zu einer eigenen Komposition trommeln. Zu diesem Fest der Subjektivität wird bezeichnenderweise zum ersten Mal kein Gruppenfoto geliefert: Das kreativste künstlerische Team seit der Frühromantik präsentierte die Erfindung des Individuums aus der Dynamik der Band. Auch die Hörer durften sich individuell behandelt fühlen: Auf jeden Umschlag war eine fortlaufende Nummer aufgeprägt.

Doch auch die einzelnen Komponisten selbst zeigen sich in ihrer widersprüchlichen Vielfalt: Harrisons weiches „Long Long Long“ kontrastiert scharf mit seinem bissigen „Savoy Truffle“, McCartneys Balance zwischen schubertscher Melodik und reinstem Rock wird selten so deutlich wie zwischen „Blackbird“ und „Helter Skelter“. Die stärkste Prägung des Albums allerdings geht hier noch einmal von John Lennon aus. Seine Kompositionen beschließen folgerichtig drei der vier Seiten. Die Provokation „Happiness is a Warm Gun“ setzt den widerborstigen Schlußpunkt zur perfektesten, der ersten Seite. „Julia“, das schönste und traurigste Liebeslied seiner Karriere, das sich an seine tote Mutter richtet, versteckt sich fast hinter dem optimistisch-unbeschwerten Feuerwerk der zweiten.

Das eigentliche Ereignis des Albums aber sind die zwei Lennon- Stücke, die das Gesamtwerk beschließen. Das als Gute-Nacht- Lied für Kinder konzipierte Schlußstück „Good Night“ kann mit seinen schluchzenden Streichern und romantischen Hörnern als hemmungslos sentimentale Entgleisung gehört werden. Es ist, als habe Lennon sich selbst nicht getraut, seine süße Seite zu zeigen, weswegen er Ringo Starr das Stück singen läßt. Zu ertragen ist es aber als ironische Antwort auf das direkt vorhergehende „Revolution Nr. 9“. Diese 8minütige reine Geräusch- und Klang-Collage war wirklich, vor allem in diesem Umfeld, revolutionär. Vielleicht war sie als eine augenzwinkernde Hommage an die E-Musik- Avantgarde („all that Stockhausen-stuff“, P. McCartney) gemeint, die die Beatles zu jener Zeit zur Kenntis nahmen, aber ihre Präsenz auf einem Pop-Album ist noch immer staunenswert.

Nicht nur untrügliches Gespür für Rhythmus weist dieses Werk allerdings ganz als eines der Popmusik aus. Es gibt sogar einen Refrain: die mantraartige Wiederholung der Worte „number nine, number nine ...“, die sich immer wieder aus dem Ton-Chaos erheben. Nr. 9: eine Anspielung nicht nur daran, daß dies das neunte reguläre Album der Beatles war, sondern auch an die in der Musikgeschichte seit Beethoven fatal aufgeladene Bedeutung der Ziffer 9 in der Zählung großer Werke. Hier kann man eine ähnlich beiseite gesprochene, ironische Selbstbezüglichkeit sehen wie in Thomas Bernhards Theatermacher: „Unter uns gesagt: ich bin ein Klassiker.“

Keines der beiden Stücke, weder das chaotische „Revolution Nr.9“ noch das schmalztriefende „Good Night“, könnten für sich das Ende des Albums sein. In ihrer Kontradiktion markieren sie als doppelte Provokation das Ende dieses bunten musikalischen Spektrums, dessen weiße Verpackung nun als die Summe seiner Farben erkennbar wird. Die Fülle des Bunten ergibt eine neue, zweite Unschuld. Die seriöse Klassizität, die die Verpackung ankündigte, entpuppt sich als Ironie.

Ironisch ist auch die Verwendung von Realitätspartikeln. Als ob es eine Begegnung der Kunst mit dem Leben, der „Wirklichkeit“ wäre, hört man vermeintlich reale Geräusche in Fülle: Düsenantrieb, Amselgezwitscher, Schweinegrunzen, Händeklatschen, Lachen, Schnarchen, Gesprächsfetzen usw... Doch es zeigt sich: All das ist eine Ästhetisierung der Wirklichkeit, deren Fragmente nur noch als Inszenierungsrequisiten wahrgenommen werden können. Präsentiert wird der Abenteuerspielplatz des anything goes. Darauf werden Wirklichkeit wie Kunst in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt. Das „Weiße Album“ ist zweifellos ein postmodernes Statement avant la lettre: Aus dem alteuropäischen Widerspiel zwischen Kunst und Leben werden Konstruktionselemente für etwas Neues gewonnen: für ein experimentell-ironisches Dasein aus Leben plus Kunst: Lebenskunst.

Merkwürdigerweise bekommen gerade in diesem ironischen Rahmen einzelne Songs manchmal die Qualität und die Würde einer pointierten künstlerischen Aussage von unmittelbar einleuchtender Evidenz, wie etwa „Julia“, „Blackbird“ oder „Cry Baby Cry“. Es sind kleine Bojen von Sinn im Ozean des ungenierten Spiels aus Zitat und Parodie, aus Hommage und Dekonstruktion. Diese Stärke des Einzelnen bekommt ihre Schwerkraft erst inmitten dieses luftigen Spiels der Selbstrelativierung, die das Konzept eines möglichen Ganzen endgültig zerstört.

Doch auch auf der Ebene des einzelnen Stücks selbst ist die relativierende Ironie beständig am Werk. Wie schon auf „Sgt. Pepper's“ gerade das bedeutungslastige „Within You Without You“ mit Gelächter beschlossen werden mußte, so wird auf dem „Weißen Album“ das Ende des einzelnen Songs fast in jedem Fall höchst problematisch. Man denke an das merkwürdige Fagott mit Studio- Beifall in „Bungalow Bill“ oder an das unmotivierte Schlagzeug-Gerumpel bei „Happiness is a Warm Gun“. Am Ende von „Cry Baby Cry“ gibt es noch einmal ein völlig neues Thema, und bei „Piggies“ trumpfen die Streicher plötzlich noch einmal auf. „Helter Skelter“ wird schließlich gleich dreimal „beendet“: erst durch eine Ausblendung, dann durch eine rückwärts gespielte Wiederaufnahme und schließlich durch einen unerwarteten Schrei. Ein klassisches Ende, wie es auch in der Popmusik bis dahin üblich war, gibt es hier nicht. Auf dem „Weißen Album“ wird die Brüchigkeit, das Fragmentarische und prinzipiell Endlose nicht nur im Ganzen demonstrativ dargestellt. Nicht einmal in so einer kleinen Einheit, wie sie ein Pop- Song darstellt, kann der Schein des Vollkommenen und Ganzen gewahrt werden. Was immer wir machen, es kann nicht zu einem konsequenten Ende gebracht werden. Es soll auch gar nicht: Jeder Schluß, wenn er nicht gewalttätig sein will, ist schon wieder der Anfang eines neuen Experiments.

Nur eine kleine neue Idee, und schon geht es weiter. Als könnten sie ein Ende nicht ertragen, haben es die Beatles auf diese Weise oft überspielt. Auf „Sgt. Pepper's“ folgte dem endlos langen, scheinbar endgültigen Klavierakkord am Schluß nach einer Pause noch die mit undechiffrierbaren Geräuschen gefüllte sogenannte Endlosrille. Das hörte erst auf, wenn der Hörer endlich den Tonarm abnahm – es sei denn, er besaß einen Plattenspieler mit automatischer Endabschaltung. (Dieser Effekt – Ironie des Fortschritts – kann auf der CD nur noch mit einem faden fade-out simuliert werden).

Nach dem Weißen Album wurde das dann anders. Auf der zuletzt produzierten LP „Abbey Road“ heißt das auf dem Umschlag als letztes annoncierte Stück „The End“. Der Text ist eine pathetische Sentenz über Geben und Nehmen in der Liebe, die Musik endet mit einem wuchtigen und harmonischen Orchester- bzw. Synthesizer-Wohlklang. „The End“ aber ist gar nicht das Ende. Es folgt noch die nicht angekündigte Zugabe „Her Majesty“, ein 28-Sekunden-Liedchen, begleitet von einer einzigen akustischen Gitarre. Noch einmal wird hier ein Ende negiert. Allerdings darf die Zugabe nicht verklingen: Der letzte Ton wird rüde abgeschnitten – ebenso gewaltsam ist auf der ersten Seite der Interruptus der scheinbar endlosen erotischen Litanei „I want you“. Ein gewaltsamer Schnitt beendet das Spiel.

Gewaltsam, und das ist die bittere Pointe, mußte schließlich auch die Geschichte der Beatles selbst enden. Die regelmäßig auftretenden Gerüchte über eine mögliche „Wiedervereinigung“, die ein Ende nicht wahrhaben wollten, verstummten erst, als John Lennon im Dezember 1980 erschossen wurde. Davon allerdings ahnte bei Erscheinen des „Weißen Albums“ noch niemand etwas. Es war ein Spiel, das auf Grenzenlosigkeit hoffte, und es bleibt ein Standard für Artistik und Ironie in der Rock- oder Popmusik.

Die Beatles haben den fundamentalen Umbruch der sechziger Jahre nicht nur mit einem unvergeßlichen Soundtrack begleitet, sondern waren gleichermaßen Repräsentanten und Katalysatoren dieser Veränderung. Der Stil des Lebens änderte sich, indem das Leben Stil wurde. Eine ironische Lebenskunst leuchtete auf, deren Utopie die Endlosigkeit war, die ständige experimentelle Transformation des Lebens. Das „Weiße Album“ der Beatles ist Ausdruck dieser ästhetisch inszenierten, ironischen Lebenskunst und insofern (unter uns gesagt) ein Klassiker. Leben könnte Kunst sein, grenzenlos, gäbe es nicht die Gewalt, die irgendwann und irgendwie ein Ende setzt. Good night, everybody.