„Die deutsche Botschaft ist die schlimmste“

■ Russen stehen zwischen drei und fünf Monaten für ein Touristenvisum an – täglich

Moskau (taz) – Während des Kalten Krieges war der Eiserne Vorhang von der östlichen Seite viel strenger bewacht als von der westlichen. Sogar während der Perestroika brauchten die Sowjetbürger eine Ausreisegenehmigung, um ihre immer noch sozialistische Heimat zu verlassen – egal ob auf ein paar Wochen oder für immer. Seit diesem Januar aber kann jeder Einwohner Rußlands einen Reisepaß beantragen. Dennoch sind Auslandsreisen für die Russen wesentlich schwieriger geworden als noch vor zwei Jahren.

„Die deutsche Botschaft ist absolut die schlimmste“, erzählt Andrej. Er steht vor dem überlebensgroßen Zaun der ehemaligen DDR-Botschaft in Moskau, die nach der Wiedervereinigung von der Visaabteilung der deutschen Botschaft und dem Goethe-Institut übernommen worden war. Andrej hat Erfahrung. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat er das französische und das US-amerikanische Visum beantragt. Auch in Deutschland war er, noch vor der Vereinigung. „Seitdem sie die DDR angeschlossen haben, ist es mit der Visaerteilung einfach katastrophal geworden.“ Nach der Übernahme der Botschaft wurde das Eisengitter modernisiert, mit Videoüberwachung und Schlagbäumen ausgerüstet. Anstelle einfacher Zauntüren sind solide Gebäude des Grenzschutzes errichtet worden, mit Schaltern und vergitterten engen Drehtüren.

Vor dem geschlossenen Visa- Schalter stehen etwa zwanzig Leute. Als selbsternannter „Schlangen-Ältester“ führt Andrej eine Warteliste. Die hier Verzeichneten hoffen, spätestens am nächsten Morgen in eine weitere Warteliste eingetragen zu werden und eine eigene Wartenummer abholen zu können. Diese Liste wird von deutschen Beamten geführt. Im Moment könne man, so Andrej, mit der Wartenummer 40.000 rechnen. Jetzt würden die Nummern um 20.000 empfangen, heute zehn und gestern fünfzehn Antragsteller, aber oft auch viel mehr. So ergebe sich eine Wartezeit von drei bis fünf Monaten, dann endlich können die von der Polizei in Deutschland schon beglaubigten Einladungen abgegeben werden.

Die Geschäfts- und Dienstreisenden haben es noch schwerer. In ihrer Warteschlange stehen „nur“ 300 Leute, es gibt aber keine amtliche Liste. Sie wird von den Wartenden selbst geführt. Jeden Morgen, ungefähr vier Wochen lang, müssen die Reisewilligen um halb acht Uhr „antreten“, wenn die Namen vorgelesen werden. Sonst verlieren sie ihre Nummer.

Neben den Warteschlangen für Privat- und Geschäftsreisende, für Notfälle und Aussiedler gibt es noch eine: die für die Deutschen. Eigentlich dürfen deutsche Staatsbürger jederzeit in die eigene Botschaft kommen. Theoretisch dürfen sie sogar einen Russen mitbringen, in der Botschaft eine Einladung für ihn schreiben und ein Visum beantragen. Dann wäre es am nächsten Nachmittag fertig.

Diese Reiseerleichterung wird aber nun nicht zu jeder Zeit gewährt. Schon ein paar Stunden nach Beginn des Arbeitstages taucht neben dem Haupteingang ein Schild auf, die Visaabteilung sei „wegen Überfüllung vorübergehend geschlossen“. Nur 80 bis 100 Leute werden um 8 Uhr eingelassen. Deswegen müssen auch die Deutschen Schlange stehen.

Diejenigen, denen schließlich Einlaß gewährt wird, werden nach Waffen durchsucht, die Kontrolle am Flughafen Tegel ist nichts dagegen. Schon bei den winzigsten Knöpfen oder Sicherheitsnadeln meldet das Sensorgerät Alarm, potentielle Attentäter können nicht die kleinste Rasierklinge in die Botschaft schmuggeln. Höflich, auf deutsch und auf russisch, bitten die Beamten um Verständnis.

Dennoch sind all diese Wartenden keine Terroristen und potentielle Attentäter. Sie sind auch keine illegalen Einwanderer. Ganz im Gegenteil, sie möchten alles auf dem gesetzlichen Wege erledigen und legal einreisen. Als disziplinierte Bürger sind sie sogar bereit, viel Zeit zu verlieren oder viel mehr zu zahlen als die Leute, die sich über die polnische oder slowakische Grenze nach Deutschland schmuggeln lassen.

Denn deutsche Visa können auch bestellt werden: Für eine Ausfertigung innerhalb von fünf Tagen zahlt man an russische Firmen bis zu 300 Mark, für 1.000 Mark kann es in zwei Tagen beschafft werden. Diese Firmen nennen sich beispielsweise „Reisebüros“, und so müssen ihre Kuriere sich nicht in die Schlange der Wartenden einreihen. Die Konsulatabteilung des russischen Außenministeriums kann Visa für wenige privilegierte Einrichtungen in drei Wochen für etwa 30 Mark erstellen lassen, was immerhin fast der Hälfte des durchschnittlichen Monatslohnes entspricht. Ein weiteres Drittel zahlt man an die deutsche Botschaft – für die perfekt organisierte Visaausfertigung.

Die überlasteten Beamten des Konsulats sind immer im Streß, wie auch die Grenzschutzbeamten, die jeden Tag Dutzende von Menschen vor die Tür setzen müssen. Die Beamten erklären sich diese Situation mit Personalmangel. In diesem Sommer sei es besonders schwierig, da viele Mitarbeiter krank oder auf Urlaub seien. Doch warum werden nicht neue Mitarbeiter angestellt und mehr Konsulate geöffnet? Heute muß die Botschaft in Moskau Visa für halb Rußland erstellen. Das Geld für die neuen Grenzschutzanlagen an der deutschen Ostgrenze könnte auch sinnvoller angelegt werden. Boris Schumatsky