Als die wirklichen Kapitalisten kamen

Das Eisenhüttenkombinat Ost sollte dem Frieden und dem Sozialismus dienen. Fertig wurde es nie. Auch ein Stahl-Patron soll es nicht vollenden, sagen Europas Regierungen  ■ Aus Eisenhüttenstadt Niklas Hablützel

Die Bahnhofshalle wird um acht Uhr abends geschlossen. Reisende, die dann noch ankommen, werden gebeten, den Tunnel zu benutzen, der unter den Rangiergleisen hindurch zum Hinterausgang führt. Das alte Städtchen liegt auf der anderen Seite, aber seinetwegen wäre wohl nicht einmal dieser Bahnhof nötig gewesen.

Auch der alte Name Fürstenberg ist fast vergessen, seit Fritz Selbmann am 18.August 1950 auf der Heide neben dem Oderkanal eine Krüppelkiefer gefällt hat. Zäh sei sie gewesen, berichtet die Legende, Selbmann mußte mehrmals mit der Axt auf das Gewächs einschlagen, bis es endlich fiel. Er war aus Berlin hierhergefahren, Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, außerdem Minister für Industrie in der provisorischen Regierung der DDR, und er hielt, will man der Legende weiter folgen, eine bewegende Rede: „Wir brauchen Eisen und Stahl für Turbinen, für Förderbrücken im Bergbau, für landwirtschaftliche Maschinen, für den Bau unserer Fischerei- und Hochseeflotte.“

Im Westen glaubte man ihm das nicht. Was da an der polnischen Grenze entstand, sah eher nach einer sowjetischen Waffenschmiede aus. Welchen anderen Sinn sollten Hochöfen auf der grünen Heide schon haben, fragten Kommentatoren des beginnenden Kalten Krieges, ausgerechnet hier, wo weder Eisenerz noch Kohle zu finden sind? Auch Horst Sallani kennt den Anfang dieser Geschichte nur aus den Erzählungen seines Vaters. Der, später Nachfahre eines im 18. Jahrhundert ausgewanderten Neapolitaners, war 1953 hierher gekommmen, in die neue Stadt, die damals noch „Stalinstadt“ hieß. Sein Sohn ist Betriebsrat und macht nicht viele Worte. Er hat die Geschichte des Eisenhüttenkombinats Ost auf ein Blatt Papier gezeichnet. „Zurück in die Zukunft“ heißt die Bilderfolge in vier Stationen. Krüppelbäume, eine Eule und ein Mond stehen für das Jahr 1950, rauchender Kamin, Hochöfen und Hochhaus für das Jahr 1960. Noch mehr Hochhäuser und langgestreckte Hallen sind 1990 zu sehen, das letzte Bild aber zeigt wieder Eule, Mond und Krüppelbäume, neu ist nur, daß zwischen ihnen ein Autowrack liegt. „Vondran-Vision 2000“ steht darüber. – Was ist gegen Ruprecht Vondran zu sagen, den Chef der Wirtschaftsvereinigung Stahl mit Sitz in Düsseldorf? „Man sieht, wer ihn bezahlt“, findet Betriebsrat Sallani, der bisher nur einmal mit ihm an einem Tisch saß. Es hat ihm gereicht. „Wir kannten das ja nur aus den Schulbüchern“, sagt er, „und müssen uns immer noch daran gewöhnen, daß es wirklich so ist mit dem Kapitalismus.“

Ach, die Schulbücher. Sallani lächelt darüber. Dort stand so viel, was kein Mensch mehr geglaubt hat. Nun soll also doch wahr sein, daß der Klassenfeind an Rhein und Ruhr lauert. Heute morgen hat der gegenwärtige Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland einen Kurzbesuch absolviert. Nicht einmal er scheint daran zu zweifeln, daß die westdeutschen Stahlkonzerne die Eko-Werke lieber heute als morgen schließen möchten. So ähnlich hatten es die Schulbücher immer behauptet.

Aber gerade hier, in dieser Kunststadt, die eines Tages plötzlich nicht mehr Stalins Namen tragen durfte, wurde besonders gründlich mit der Wahrheit gelogen. Sogar das ruhmreiche „Eisenhüttenkombinat Ost“ selbst stand nur auf dem Papier, vollendet wurde es nie. „Ein Werk des Friedens“ sollte es werden, hatte der Genosse Selbmann damals geschworen und an Friedrich Flick erinnert, den Stahllieferanten Hitlers, den die Amerikaner gerade aus der Haft entließen. Nie wieder sollten solche Leute die Herrschaft an sich reißen. Schon drei Jahre später revoltierten die Arbeiter gegen die Arbeitsnormen der Partei, der Bau an diesem Bollwerk des Sozialismus wurde vorübergehend eingestellt. Nur die Schmelzöfen für das Roheisen waren fertig geworden, erst 1968 ging das Kaltwalzwerk, die letzte Stufe der Stahlerzeugung, in Betrieb. Auch dann fehlte zwischen Anfang und Ende des metallurgischen Prozesses 16 Jahre lang immer noch fast alles. Das Roheisen nahm vorwiegend die Sowjetunion ab und lieferte es zum Walzen wieder zurück. Erst 1984 kam die Anlage zur Umwandlung von Eisen in Stahl hinzu, geliefert und montiert hat sie die österreichische Firma Voest-Alpine. Siemens, noch ein Klassenfeind aus dem Schulbuch, bekam 1988 den Auftrag zum Bau einer Warmwalzstufe. Zu spät, die Hallen wurden noch hingestellt, für die Anlage selbst fehlte das Geld. Die letzte metallurgische Lücke blieb, ein Jahr später brach das Regime zusammen.

Krupp kam, kaufte ein Stahlwerk in Oranienburg und schloß es in diesem Frühjahr. An Eko hatte der Konzern schon im vergangenen Herbst jedes Interesse verloren. Wie aus dem DDR-Lehrbuch abgeschrieben, rechneten danach auch die Firmen Thyssen und Preussag der Treuhandanstalt vor, daß Stahl aus dieser Ecke Deutschlands den Interessen der Nation abträglich sei.

Die Stahlkrise allerdings steht nicht im Lehrbuch, sie ist europäische Wirklichkeit. Haben die westlichen Stahlkonzerne deshalb nicht recht, wenn sie Ersatzarbeitsplätze in anderen Branchen fordern? Wie oft schon hat Horst Sallani diese Frage beantworten müssen. „Sehen Sie sich um“, sagt er achselzuckend. Im ersten Schnee dieses Jahres ist nun wirklich nichts zu sehen. Auch die Kuppeln der Hochöfen sind nur schwarze Schatten hinter den fallenden Flocken. Das Kraftwerk ist ganz im Nebel verschwunden. „Guben ist am Ende, Frankfurt auch. Es gibt nur noch Eisenhüttenstadt in dieser Region.“ Es fällt schwer zu widersprechen.

70.000 Menschen lebten vom Stahl, 11.500 arbeiteten in der Hütte. Heute sind es noch etwas über 3.000, und einer, der im Eingang der Kantine wartet, findet es „schon bitter zu sehen, wer hier entlassen worden ist.“ Er selbst möchte, daß sich mehr mittelständisches Gewerbe ansiedelt. Schon jetzt könnten einige Firmen ohne die Stahlproduktion überleben. Aber wieder mal lief etwas zu sehr nach dem Schulbuch ab. „Die Genossen sind alle geblieben, fragen Sie doch mal, warum.“

Dafür interessieren sich die Industrieminister der Europäischen Union weniger. Sie erlauben den Deutschen nur nicht, mit Staatsgeldern noch mehr Stahl auf den Markt zu werfen. Das versteht auch ein Betriebsrat. Warum aber muß Ostdeutschland das Opfer bringen? Die europäischen Regierungen verlangen, daß zum Ausgleich für Neubauten andere ostdeutsche Anlagen stillgelegt werden. Allein daran scheitert das Angebot der Hamburger Stahlwerke, die hier eine moderne Warmwalzstraße betreiben möchten: Die Hamburger besitzen nichts, was sie in Ostdeutschland stillegen könnten. Leider sei es nicht möglich, „Kapazitäten zu transferieren,“ formuliert Brandenburgs Wirtschaftsminister den ausschließlich politischen Willen seiner Regierung. – Nicht nur Sallani kann das nicht verstehen. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Spiegel-Artikel Klaus von Dohnanyis. Den will er gerahmt an die Wand hängen. Der adlige Sozialdemokrat, der seine Karriere als Ford-Manager begann, mahnt, es sei „weitsichtig“, wenn westliche Firmen Arbeit an den Osten abgäben. Die Opel- Werke handeln bereits danach und lassen sich aus Eisenhüttenstadt mit Qualitätsware beliefern. Mit Mercedes und VW wird noch verhandelt, die Chancen stehen nicht schlecht, sagt der Vorstand der heutigen Treuhand-Aktiengesellschaft Eko-Stahl. Exakte Zahlen über die Verluste werden nicht genannt, sie sollen aber gesunken sein.

Auch Horst Sallani hat seinen kurzen Lehrgang über kapitalistische Profitwirtschaft verstanden, flüssig geht ihm über die Lippen, daß Unternehmensberater Berger schon nach einem Jahr schwarze Zahlen voraussagt – wenn denn mit einem neuen Warmwalzwerk die Lücke geschlossen würde, die der Sozialismus hinterließ.

An der Schranke rollt ein schier endloser Zug polnischer Eisenerzwaggons langsam in die Winternacht. Das Bild könnte aus einem alten Arbeiterfilm geschnitten sein. Aber es täuscht. Niemand wünscht sich hier die Vergangenheit zurück. Das Städtchen Fürstenberg erwacht aus einem verordneten Dämmerschlaf. Neue Schaufenster erleuchten die Gäßchen; an der Straße, die am Plattenviertel der sozialistischen Aufbauarbeiter entlang zum Stahlwerk hinausführt, steht ein Einkaufszentrum im Rohbau fertig. Am 13. Dezember wird es eröffnet, rechtzeitig für die Weihnachtseinkäufe. Kinder freuen sich über den ersten Schnee, Fußwege werden geräumt. Das ist kein Ort des Zusammenbruchs, mit dem Kapitalismus kam auch Wohlstand hierher.

Aber dann hatte das alte Lehrbuch doch wieder recht. Schon vor der Wende hat Krupp den rohen Stahl aus Eisenhüttenstadt in seinen Werken von Salzgitter und Braunschweig warmgewalzt. Das gute Geschäft mit der Lücke des sozialistischen Kombinats reißt noch heute Löcher in die Eko-Bilanz. Die Belegschaft hat einem Vertreter des Konzerns trotzdem zugejubelt, als er nach der Wende zu Besuch kam. Wenig später war die Hoffnung auf den Retter betrogen, die Verhandlungen mit der Treuhandanstalt gescheitert.

Ernsthafter schien da schon das Interesse des Riva-Konzerns. Die italienischen Mittelständler der Stahlbranche haben schon das Stahlwerk in Henningsdorf gekauft. Dort könnten sie einen ganzen Betriebszweig stillegen, um die Forderung der Europäischen Union zu erfüllen. Sie gelten als Favoriten der Treuhand. Auch Vater und Sohn Riva kamen nach Eisenhüttenstadt. Eine Betriebsversammlung mochte der Betriebsrat deswegen nicht einberufen. Die Erfahrungen mit Krupp haben ihn vorsichtig gemacht, die Angst um den Arbeitsplatz macht sogar Stahlwerker leichtgläubig.

Betriebsrat Sallani hat den Besuch aus Italien sehr genau beobachtet. „Ein richtiger Patron“, fand er, der Sohn gefiel ihm weniger. Denn in Claudio Rivas Rechnung stimmt etwas nicht. Mit der Hälfte der Belegschaft soll die Produktion noch über den heutigen Stand hinaus hochgefahren werden: „Ich kann mir nicht vorstellen wie.“ Nachdenklich stimmt ihn außerdem, daß die neuen, aus dem Kombinat ausgegliederten Firmen mit ihren immerhin etwa 2.000 Arbeitsplätzen vom Werksgelände verschwinden sollen. Nein, Signore Riva ist nicht zu trauen, auch wenn der Betriebsrat sein Kaufangebot unterstützt. „Solidarisch“, sagt Sallani, kann aber das Gerücht auch nicht widerlegen, daß Riva nur ausgemusterte Uraltmaschinen an die Oder verfrachten will.

Das wäre dann wohl wieder die Pleitemethode jenes Sozialismus, den hier alle nur zu gut kennen. Horst Sallani lacht. Vor seinem Büro in der Baracke hängt die Gewerkschaftsfahne. Auch er freut sich über den neuen Schnee, und ein Trabi hat doch auf dem Glatteis tatsächlich einen Laternenpfahl umgefahren. Aber nicht nur das amüsiert ihn. Die echten Kapitalisten sind lustiger als die alten aus den Büchern. Denn jetzt stehen auch die Betriebsräte nicht mehr nur auf dem Papier. Sie werden wirklich gebraucht.