■ In Seattle ging das Gipfeltreffen der „Asiatisch- pazifischen Ökonomischen Konferenz“ (Apec) zu Ende
: Abkehr von der Alten Welt

Weltpolitik ohne Europa – wann war das je vorstellbar? Von Versailles über Jalta und Potsdam bis Helsinki reicht in diesem Jahrhundert die stets maßlose Vorstellung einer Aufteilung der Welt, welche die europäischen Verhältnisse auf alle Kontinente projiziert. Noch heute glaubt man in der Alten Welt, der Planet drehe sich letztlich um Europa, zumal ja auf allen Gipfeln der Weltpolitik wie auch im erlauchten Kreis der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats die Europäer stets in der Überzahl sind.

Somit markiert der Pazifik-Gipfel vom Wochenende in Seattle wenn schon nicht für Amerika und Asien, die sich bessere Ergebnisse erhofften, so doch allemal für Europa einen schmerzenden Einschnitt. Da trafen sich die Mächtigen dieser Welt, darunter die Regierungschefs der USA, Japans und Chinas, die Vertreter der drei größten Volkswirtschaften schlechthin also, und kein Europäer war dabei. Schlimmer noch: In der gemütlichen Blockhausrunde, zu der Bill Clinton seine illustren Gäste in der bewährten Tradition von Camp David in den Staat Washington geladen hatte, dominierten eindeutig die Asiaten. Zwei Drittel der angereisten Staatschefs kamen aus dem Fernen Osten. Für einmal also war ihr Kontinent entsprechend seines Anteils an der Weltbevölkerung vertreten. Was würde mit Europa geschehen, wenn das Beispiel Schule macht?

Indes beließen es die Herren des Pazifiks nicht bei der ohnehin erschreckenden Symbolik ihrer Zusammenkunft. Sie sparten nicht mit unverblümter Kritik an Europa. Gerade weil sich Amerikaner und Asiaten untereinander über Sinn und Zweck ihrer „Asiatisch-pazifischen Ökonomischen Konferenz“ (Apec) nicht grundsätzlich einigen können, da die USA eine Freihandelszone im Pazifik anstreben und die asiatischen Apec-Partner aus innenpolitischen Gründen (noch) davor zurückschrecken, ersetzt der Angriff auf den schwachen Dritten die fehlende Gemeinsamkeit. Denn wo regieren die hartnäckigsten Protektionisten dieser Welt? Und welcher entwickelte Erdteil widerstrebt immer noch dem pazifischen Aufwärtstrend? In Seattle brauchten die neuen Mächtigen nur zwei Tage, um Europa zum Hindernis für Freihandel und globales Wirtschaftswachstum herabzustufen. So schnell kann verlieren, wer am Tisch der Großen nicht vertreten ist.

Tatsächlich kann die Sache im Handumdrehen ernst werden: Schon am 15. Dezember läuft das womöglich endgültige Ultimatum für den Abschluß eines neuen internationalen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) aus. Wenn es den französischen Bauern bis dahin gelingt, das Gespenst einer sozialen Revolte in Frankreich am Leben zu erhalten, wird nicht nur Gatt scheitern, sondern auch das deutsch-französische Europabündnis schweren Schaden erleiden. Nicht umsonst ist die asiatische Herausforderung in der deutschen Wirtschaft derzeit so groß im Gespräch, daß sogar der Bundeskanzler nach China reist. Die Deutschen glauben, den Anschluß in Asien zu verlieren, und erkennen die französischen Bauern als ihre Feinde in der Not. Aus dem Dilemma aber führt kein Königsweg. Denn ohne Europa ist Deutschland wirtschaftlich nicht interessant genug und mit Europa Gatt-untauglich. Das zumindest ist die deutsche Lage von Seattle aus betrachtet – ein fürs nächste hoffnungsloser Fall.

Diese politische Arroganz der Apec-Länder gegenüber den Europäern ist zutiefst verständlich. Denn wirtschaftlich werden die asiatischen Konkurrenten im Westen zwar seit einigen Jahren ernst genommen. Doch politisch rechnete seit dem Untergang des Mongolenreichs kein Europäer mehr mit Asien. Das ändert sich nun, weil Amerika der Alten Welt den Rücken zuwendet. Zum ersten Mal gehorcht die amerikanische Außenpolitik ihrem neuen strategischen Ziel. Amerika müsse sich an die am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in Asien anbinden, forderte Clinton in Seattle, da die Exporte das „Lebensblut“ der amerikanischen Wirtschaft seien. Viel später sprach er von Demokratie und Menschenrechten.

Doch haben Japan, Südkorea und Taiwan – was in Europa oft übersehen wird – innerhalb des letzten Jahres eine erstaunliche Demokratisierung erlebt, und zwar nicht nur im formalen, sondern im wahrsten Sinne einer breiteren Beteiligung des Volkes an der Macht. In den drei weitestentwickelten asiatischen Ländern sind die Machtmonopole der jeweils staatstragenden Parteien der Nachkriegszeit aufgebrochen worden, gleichzeitig führt das politische Tauwetter zur Neudefinition der Bürgerinteressen gegenüber dem Unternehmerstaat. Solches Selbstbewußtsein führt Asien noch näher an Amerika heran.

Schon ist absehbar, daß die Deutschen ihre bislang als vorbildlich empfundene Sozialgesetzgebung abbauen werden, während Japan neue Maßnahmen zur Besserstellung der Verbraucher plant. Derweil wird der Lebensstandard in Südkorea und Taiwan bald an die Verhältnisse in Italien oder Großbritannien heranreichen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und politisch ist längst entschieden, auf welcher Seite der Erdkugel die Dinge eher voran und wo sie in den nächsten Jahren eher bergab gehen.

Kein Wunder, daß vor allem die westlichen Mitgliedsstaaten der Apec, die USA, Australien und Neuseeland, von einer „pazifischen Gemeinschaft“ träumen. Kein Wunder auch, daß sich die asiatischen Mitgliedsstaaten gegen eine solche rasche Vereinnahmung wehren. Sie wissen mehr von den gewaltigen kulturellen Unterschieden und der Unvergleichbarkeit der politischen Systeme innerhalb Ostasiens. Zwischen Thailand und Indonesien, zwischen Hongkong und Singapur oder zwischen China und Japan läßt sich nichts leicht auf einen Nenner bringen. Und doch hat der politische Integrationsprozeß mit der Herausbildung eines immer selbstbewußteren Mittelstandes von Bangkok bis nach Tokio unaufhaltsam eingesetzt. Daran knüpfen sich die großen Hoffnungen des Gipfels von Seattle, von denen die Europäer so wenig verstehen. Georg Blume, Tokio