In der bosnischen Enklave Bihać, eingeklemmt zwischen serbisch und kroatisch besetzten Gebieten, macht der Autonomist Fikret Abdić Front gegen Präsident Alija Izetbegović. Aus Velika Kladuša Erich Rathfelder

Krieg für Frieden in West-Bosnien

Schneeflocken quellen aus dem grauen Gewölk, sogar die Milizionäre der „Serbischen Republik Krajina“, die am letzten Checkpoint vor der Demarkationslinie an der bosnischen Grenze stehen, schauen mißmutig drein. Fröstelnd werden die Papiere überflogen, die sonst üblichen langwierigen Kontrollen entfallen – wegen der Kälte. Die Soldaten rollen nur mit den Augen und wünschen „Gute Fahrt“ angesichts der „gefährlichen Gegend“, die vor uns läge. Kaum ist der Schlagbaum gehoben, sind die schwerbewaffneten Gestalten auch schon in der Wärme des Wachhäuschens verschwunden.

Dann sind die sechs Lilien auf blauem Grund zu sehen: die bosnische Flagge. Überrascht betrachten die Wachposten die Neuankömmlinge. Journalisten sind hier, an der Grenze zu dem bosnisch kontrollierten Gebiet der von serbischem Gebiet umgebenen Enklave Bihać, selten aufgetaucht. Und seit hier seit Anfang Oktober Muslime gegen Muslime kämpfen, hat sich der Verkehr in noch engeren Grenzen gehalten. Ein kurzer Blick auf die Akkreditierung der UNPROFOR genügt, und schon öffnet sich der Schlagbaum. Der Weg ist frei nach Velika Kladuša, der Hochburg des bosnisch-muslimischen Dissidenten Fikret Abdić. Kaum 500 Meter weiter, und schon ist das Stadtzentrum erreicht. Obwohl in Reichweite der serbischen Artillerie liegend, ist hier kein Haus zerstört oder beschädigt. Auf dem Hauptplatz angekommen, springt das Spruchband, das neben der Moschee angebracht ist, ins Auge: „Von 1987 bis 1993 gab es nur Leiden, jetzt wird es dank Fikret wieder besser.“ Ungefragt nähern sich einige schwerbewaffnete Männer, um ihrer Begeisterung über Fikret Abdić freien Lauf zu lassen. „Er ist der Beste, schreiben Sie das“, rufen sie, „nieder mit Izetbegović und der Militärdiktatur.“ Und sie zeigen auf den Supermarkt, vor dem gerade ein Lastwagen mit Mandarinen und anderem Obst abgeladen wird. „Seit einem Jahr haben wir das nicht gesehen, aber seit die Verträge mit den Serben und den Kroaten Anfang November unterschrieben wurden, haben wir einen Korridor nach Kroatien und in den Freihafen der Hafenstadt Rijeka“, sagt einer stolz. Sie wollten keinen Krieg mehr. Frieden soll herrschen. „Wir hier in Velika Kladuša werden in diesem Winter nicht verhungern, dafür sorgt unser Babo.“

In der Tat sind im Supermarkt für das muslimische Bosnien neue, seltene Waren zu finden. Da sind Weinflaschen aus Emutsku, einem Ort in der von Kroaten beherrschten Westherzegowina, in den Regalen aufgereiht, vier Deutsche Mark das Stück. Dort stehen Bierbüchsen aus Serbien zum gleichen Preis. Die Mandarinen kosten drei Mark das Kilo. Doch noch überwiegen die einheimischen Produkte, nämlich die von „Agrokomerc“, der Firma, deren Direktor Fikret Abdić ist. Fünf-Kilo-Büchsen voller Peperoni, einmal bestimmt für die Pizzerien des alten Staates, gammeln auf den Regalen und kosten 13 Mark. Doch der Bedarf an diesem scharfen Gemüse scheint in Velika Kladuša gedeckt. „Und der Wein“, flüstert eine Frau, „ist für uns Muslime ja nicht lebenswichtig.“ Sie selbst lebe weiterhin von der humanitären Hilfe, die Preise könne ja niemand mehr bezahlen. Die da draußen seien alle von der „Firma“, „Babos“ („Großvater“ Abdić) Leute, die ihm gehorchten, die er mit seinen Schwarzmarktgeschäften bezahlen kann, die bereit seien, gegen die eigenen Brüder zu kämpfen. Sie schaut wachsam um sich. Als sich jemand nähert, ist sie schon verschwunden.

„Das bosnische Geld, das Geld aus Sarajevo, benutzen wir nicht“

An der Kasse wird in DM bezahlt, eine eigene Währung gibt es nicht. Beim Herausgeben hat die Kassiererin jedoch Schwierigkeiten, das nötige Kleingeld auszuzahlen. „Kleingeld ist knapp bei uns, es fehlen die Zehnpfennig- und Markstücke“, gibt sie zu verstehen. Und freundlich bietet sie handsignierte Geldcoupons im Gegenwert von einer Mark an. „Das bosnische Geld, das in Zentralbosnien gilt, oder das Geld aus Sarajevo benutzen wir nicht“, erklärt sie eifrig. „Deutsche Mark, aber manchmal auch Schillinge, Französische Francs oder Schweizer Franken.“

Die Straßen sind vom Schnee schon zugeweht, die Schneepflüge des französischen Bataillons, das in Velika Kladuša stationiert ist, versuchen dagegen anzukämpfen. Denn die Versorgungskonvois des Flüchlingshilfswerks der Vereinten Nationen, UNHCR, sollen die Bedürftigen der Region überall erreichen können. Auf beiden Seiten der Straßen stehen noch die riesigen Lagerhallen von Agrokomerc, dem größten Lebensmittelkonzern im ehemaligen Jugoslawien. 13.000 Arbeiter waren hier noch vor dem Krieg beschäftigt. Als Fikret Abdić 1972 hierherkam und in eine Lebensmittelfirma einstieg, waren es gerade 15 Angestellte. Dann begann der kometenhafte Aufstieg dieses autokratischen kommunistischen Managers, und damit der Region. Noch heute zeugen die riesigen Silos und Verwaltungsgebäude von der Bedeutung des Konzerns. Und in einem dieser Gebäude hat Abdić sein Hauptquartier eingerichtet. „Wir hier in Velika Kladuša“, sagt der Vizepräsident des Parlaments der autonomen Region „West-Bosnien“, der Kroate Bozebar Šecel, „haben nur in geringem Maße Krieg geführt.“ Seit Monaten sei schon alles ruhig in der Gegend, die Abgesandten der Serben und Kroaten, wie kürzlich der Ministerpräsident von „Herceg-Bosna“, Jabranko Crlec, kämen hier ohne Sicherheitsmaßnahmen aus. „Sie glauben unserer Friedensbereitschaft, wollen ebenso Frieden schließen. Der wird nur gestört durch Alija Izetbegović, dessen Truppen uns überfallen haben.“ In der Region um Bihać sei eine Militärdiktatur errichtet worden, Leute würden ins Gefängnis geworfen, da auch dort die Mehrheit für Abdić sei. Wenn sich das fünfte Corps der Armee nicht bald ergebe, werde die autonome Region „West-Bosnien“ gezwungen sein, die Verbindungsstraße nach Bihać für internationale Hilfsleistungen zu sperren, fügt er drohend hinzu.

Der Paß in Richtung Bihać bildet die Demarkationslinie zwischen beiden verfeindeten muslimischen Parteien. Die autonome Region „West-Bosnien“ des Fikret Abdić bildet mit ihren 80.000 Einwohnern und rund einem Drittel des Territoriums den kleineren Teil der Enklave Bihać, hatte Šecel noch zum Abschied preisgegeben. Offensichtlich sind die Angaben bezüglich des Territoriums übertrieben. Denn vom Hauptquartier zur Paßanhöhe sind es kaum fünf Kilometer. Und dort ist angesichts des Schneefalls die Bereitschaft, sich gegenseitig zu beschießen, abgeflaut. Müde und träge kommen die Soldaten von Abdićs Armee aus dem Unterstand und lassen das Auto umstandslos passieren. Nach einigen hundert Metern tauchen wüste Gestalten auf, unrasiert, Decken über die Uniformen geschwungen, die Waffen schußbereit. Das sind „Mudschaheddin“, wie Abdićs Leute sagen, die Soldaten des fünften Corps der bosnischen Armee. Hier an diesem Paß hätten vor kurzem die schwersten Kämpfe stattgefunden, erklären sie freundlich, nachdem Abdićs Leute am 2. Oktober im Dorf Johovuca mit dem „Bruderkrieg“ angefangen hätten. Als „Mudschaheddin“ und „Handlanger einer Militärdiktatur“ angesprochen, lachen sie nur und sagen noch, wir sollten selbst die Wahrheit herausfinden. „Fragen Sie doch die Leute in Bihać selbst, was sie denken.“

Die Straße zieht vorbei an der Stadt Čazin, die am 4. Oktober für einen Tag von Abdićs Leuten erobert worden war, vorbei an der alten Feste Ostrozak – wo 1942/43 die kommunistischen Partisanen Titos ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten –, nach Bihać, der von serbischen Karadžić-Truppen belagerten Stadt. Die zerstörten Gebäude, die Einschläge in den Wände von Einfamilienhäusern lassen ahnen, wie schwer die Stadt unter dem Artilleriebeschuß der serbischen Seite zu leiden hatte. „Zwar ist jetzt alles ruhig“, sagt der Besitzer des einzigen funktionierenden Hotels. „Doch auch während des Sommers gab es hin und wieder heftigen Granatbeschuß.“ Die Verteidigungsstellungen am Una-Fluß seien jedoch auch von den Serben nicht zu knacken, erklärt ein Soldat, der selbst aus Bihać stammt. „Unsere Armee ist aus den Leuten von hier gebildet, wir alle sind Soldaten, wenn sie so wollen“, fügt er hinzu.

Über 13.000 Flüchtlinge habe die Stadt seit Beginn des Krieges aufgenommen, „in der Region sind es natürlich weit mehr“, erklärt Slael Kleć, Präsident des Exekutivkomitees der Stadt, was in etwa der Stellung eines Bürgermeisters entspricht. „Seitdem wir nun auch vom Nordteil abgeschlossen sind, müssen 80 Prozent der Bevölkerung von der internationalen humanitären Hilfe leben“, fügt er hinzu. Es gebe nur sechs Megawatt Strom für die rund 300.000 Menschen der Enklave Bihać, und die würden vor allem für das Hospital benutzt. Selbst im Mantel in einem der ungeheizten Räume der Stadtverwaltung stellt er sich die bange Frage, was passieren würde, wenn die internationale humanitäre Hilfe nicht mehr durchkäme. Schon jetzt seien die alten Leute und die Kinder von der Unterernährung und der Kälte besonders betroffen. „Es würde wohl viele Tote geben.“

„Aber auf den politischen Weg eines Fikret Abdić können wir uns nicht einlassen“, sagt ein ehemaliger Finanzfachmann, der jetzt als Arbeitsloser versucht, freiwillige Hilfsdienste für die Stadt zu verrichten. „Wir sind durch den Krieg geprägt, die ganzen Vertriebenen, die jetzt hier sind, können doch jetzt nicht einfach mit den Mördern Freundschaft schließen, die heute unsere Brüder im Mostar, in Srebrenica, in ganz Zentralbosnien und selbst Sarajevo ermorden wollen. Wir wollen nicht bedingungslos kapitulieren, denn dann lieferten wir uns hier aus, wären wir der Willkür ausgeliefert und hätten diejenigen verraten, die um ihr Überleben kämpfen müssen.“ Der Friede müsse ein gerechter Friede sein.

„Natürlich will jeder den Frieden, nur unter welchen Bedingungen?“

Abdić hatte im September mittels einer Unterschriftenkampagne versucht, die Menschen mit der Frage: „Wollen Sie Frieden oder Krieg?“ auf seine Fährte zu ziehen. „Natürlich will jeder den Frieden, welche Frage, nur zu welchen Bedingungen? Auch mich wollte er kaufen“, sagt der Direktor des regionalen Fernsehens von Bihać, Kahouran. „Er bot mir eine große Summe.“ Doch er könne seine Ziele nicht verscherbeln, „wir sind und bleiben Teil von Bosnien-Herzegowina.“ Die Enklave Bihać hatte angesichts der Umstände sowieso schon Autonomie erhalten, Abdić ginge es um etwas anderes. Er kämpfte für sich und seinen Konzern. Er hat sich von den Menschen in Bosnien losgesagt. Ein Drittel seiner Regierungsleute seien Kroaten, obwohl sie nur wenige Prozent in der Bevölkerung stellten. Kahouran läßt offen, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.

Deutlich wird Mursab Sejdeć, Vizekommandeur des fünften Corps der bosnischen Armee. Daß die Autonomie der Region „Westbosnien“ am 27. September ausgerufen wurde, just an dem Tage, an dem die bosnische Versammlung in Sarajevo über den Genfer Aufteilungsplan entschied, sei ein Indiz für die Rivalitäten zwischen Abdić und Izetbegović. Daß Abdić dann einen Tag später von seinem Sitz in Staatspräsidium entbunden wurde, hätten die Politiker in Sarajevo zu verantworten. „Wir hier als Armee wollen uns nicht in die politischen Dinge einmischen“, das fünfte Corps sei aber gezwungen gewesen, Position zu beziehen, nachdem alle Versuche, mit Abdić zu reden, gescheitert gewesen seien. „Wir sind bereit, die Interessen des bosnischen Staates zu verteidigen.“ Und er gibt an, daß jeder zehnte Soldat des fünften Corps zu Abdić übergelaufen sei. „Wenn er die internationale Hilfe für unser Gebiet abschneiden will, wird es zum Krieg kommen.“

Der Weg zurück über den Paß ist noch frei, und die frierenden Soldaten auf beiden Seiten grüßen freundlich. Und endlich ist auch Fikret Abdić persöhnlich in seinem Hauptquartier anzutreffen. Bereitwillig gibt der 54jährige Auskunft: „Es geht um die Frage, Frieden oder Krieg, Leben oder Tod“, betont er. Izetbegović habe sich die Macht erschlichen, die eigentlich ihm gebühre. „Wer hat sich an keine internationalen Vereinbarungen gehalten? Ohne Izetbegović wäre es gar nicht zum Krieg zwischen Kroaten und Muslimanen gekommen!“ Er werde den Weg des Friedens gehen und mit allen Seiten verhandeln. Doch Abdić bleibt die Antwort schuldig, was in Mostar und Zentralbosnien jetzt zu tun sei. Die muslimischen Flüchtlinge könnten auch in die serbisch besetzten Gebiete zurück, wenn sie akzeptierten, daß es sich um einen serbischen Staat handele. „Alles ist verhandelbar.“ Die Ergebnisse des Krieges müßten anerkannt werden, dann herrschte wieder Frieden. „Wir müssen endlich wieder produzieren.“