Wer nicht hören kann, will sehen

■ Gehörlose Schulkinder aus der Marcusallee spielen am Computer: Ein Workshop der Angestelltenkammer

Auf den Bildschirmen hüpfen die Männchen, und auf den Stühlen davor zappeln die Kinder und fahren mit den Händen in der Luft herum und schneiden bedeutende Gesichter dazu: Der Raum ist voller Zeichen, wo die Worte fehlen. Sprechen können sie kaum, die zwanzig Kinder aus der Gehörlosenschule in der Marcusallee, aber spielen können sie: Überall sind Computer aufgebaut und finden Zuspruch. Die einen hoppeln mit Go-Carts über die mörderischen Pisten von „Super Mario Kart“, die andern fußballern mit „Sensible Soccer“ herum, und mittendrin versuchen ein paar Lehrkräfte, mit Anstand zu bestehen.

Die Angestelltenkammer hatte zu einem Workshop in punkto Computerspiele geladen, und zufällig waren ausschließlich hörbehinderte Kinder gekommen. „Die haben sich das gewünscht“, sagt eine Lehrerin, „und wir haben nachgegeben“. In der gedämpften Welt der Schwerhörigkeit ist das visuelle Gewirbel der Computerspiele ja auch von besonderem Reiz. In einer Ecke sind drei Geräte zusammengeschaltet, da läuft das labyrinthische Verfolgungsspiel „Midi Maze“ für drei Jäger und Gejagte zugleich. „Haben Sie mich getroffen, Frau Beyer?“ jault ein Mädchen, aber Frau Beyer kann es nicht gewesen sein, denn sie hält den Joystick verkehrt herum und wackelt mühselig durch die Irrgänge, allwo ihre Schüler leichtgemut dahinrasen.

Nebenan ihre Kollegin Weiser- Kirchner ist schon weiter; sie kämpft sich mit einem Buben durch ein höllisch gefährliches Adventure und kann schon Feuervögel starten und Sätze sagen wie: „Oh, jetzt hast du ja ganz viel Energie!“ Zum Erfolg reicht's aber dennoch nicht hin; bald sind sie „beide tot“, wie der Junge mit Fassung feststellt, und bald überwiegt denn auch bei den Lehrkräften die Bedenkenträgerschaft. Obwohl Frau Weiser- Kirchner schon einräumt, daß da welche „zum ersten Mal so richtig aufgelebt“ seien, ist man doch auch „langsam genervt von dem Gedudel“, und es wird zur Abschlußbesprechung geschritten.

Da ist das Durcheinander so groß wie bei den Hörenden und sonst im Leben: Die einen sagen, daß sie lieber allein spielen; die andern machen's nur in Gruppen; und manche haben längst wieder genug von dem Zeug. Einer aber verkriecht sich mit seinen Freunden in aufwendige Wirtschaftssimulationen, „wo man Flotten bauen muß und Länder erobern“, so daß vier Stunden schnell um sind, was wiederum den Lehrer Noffke bedenklich frappiert: „Vier Stunden?“

Als dann plötzlich von Sexspielen die Rede ist, wo man den Joystick „im richtigen Rhythmus“ bewegen muß, schrillt zuverlässig allseits Gelächter auf, und der Sozialwissenschaftler Friedemann Schindler, der den Workshop leitet, fragt, wer denn sonst noch was mit dem Computer anzufangen wisse, beispielsweise per Modem mit anderen Menschen elektronische Briefchen austauschen und so.

In der Tat öffnet sich für Hörbehinderte mit der Datenfernübertragung ein ganz neues Medium: „Wer sehr schlecht hört, kann ja kaum telefonieren“, sagt Schindler, „das heißt zum Beispiel: Es gibt keine Möglichkeit, sich telefonisch zu verabreden.“ Manche haben sich in der Not für teures Geld ein Schreibtelefon beschafft; das schreibt aber nur an andere Schreibtelefone. „Da kommen die aus ihrer Isolation nicht sehr weit raus“, sagt Schindler. Erst seit überall PCs herumstehen, können sich die Gehörlosen in die ganz normale Kommunikation einklinken und, über Mailboxen oder telefonische Direktverbindungen, mit Hinz und Kunz überall auf Erden schriftlich palavern. Ein billiger Atari für 500 Mark, ein Modem für 200 Mark, und dem Gehörlosen stünde die ganze Welt der elektronischen Post offen. Daß in der Marcusallee nichts dergleichen geschieht, kann Schindler nicht recht begreifen: „Wenn ich dort Lehrer wäre, würde ich doch als erstes alle vernetzen.“ Manfred Dworschak