Schneller pflegen im 12-Minuten-Takt

■ Walter Irion vom Diakonischen Werk Württemberg bezeichnet die Pflegeversicherung als „Gesetz der uneingelösten Versprechungen“ / Die Leistungen sind zu gering / Betroffene haben keine Mitbestimmungsrechte

taz: Herr Irion, Ihr Kollege Manfred Ragati, der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, hat kürzlich gesagt, sein Verband lehne den jetzt vorliegenden Entwurf der Pflegeversicherung ab, weil er unzureichend sei. Schließen Sie sich dem an?

Walter Irion: Nein, aber wir haben Vorbehalte gegen bestimmte Dinge und wären dankbar, wenn im Vermittlungsausschuß noch einiges geändert werden könnte.

Welche Vorbehalte haben Sie?

Die Leistungen, die bei der Pflegeversicherung vorgesehen sind, werden nicht ausreichen. Die Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen und Erwartungen der Pflegebedürftigen und dem, was die Pflegeversicherung tatsächlich an Leistungen bringt, ist einfach zu groß. Das ist ein Gesetz von uneingelösten Versprechungen.

Wie weit reicht denn der Pflegesatz von höchstens 750 Mark für Pflegebedürftige in der Pflegestufe I bei der ambulanten Pflege?

Pflegestufe I bedeutet, daß der Pflegebedürftige bei mindestens drei täglichen Verrichtungen wie Waschen, Rasieren oder An- und Ausziehen Hilfe braucht und zwar mindestens einmal am Tag. Ein typischer Fall wäre ein alter Mensch, der morgens Hilfe beim Aufstehen und abends beim Zubettgehen braucht. Für einen einstündigen ambulanten Einsatz muß man etwa 60 Mark Kosten des Pflegedienstes ansetzen. Das bedeutet in der Pflegestufe I, bei zwei Einsätzen pro Tag, also 60 im Monat, daß die 750 Mark für einen täglichen Einsatz von 12 Minuten reichen. Wo bleibt hier die neue Kultur des Pflegens und Helfens?

Ein weiterer Kritikpunkt ist, daß der Pflegebedürftige keinen Einfluß auf die Pflegeplanung hat. Wenn von der Pflegedienstleiterin und dem medizinischen Dienst der Krankenkassen beispielsweise eine Pflege in Höhe von 1.000 Mark festgelegt wird, dann muß der Pflegedienst die Leistung in dieser Höhe erbringen. Da die Pflegeversicherung aber zum Beispiel in der Pflegestufe I nur höchstens 750 Mark übernimmt, muß die Betroffene 250 Mark dazuzahlen. Da fragen Sie sich natürlich, ja wo bleib ich? Ich muß doch schließlich bezahlen, dann möchte ich auch mitbestimmen. Es ist noch völlig ungeklärt, was passiert, wenn Sie dann sagen würden, die Leistungen für 750 Mark, die rufe ich ab. Aber die Leistungen für 250 Mark, die will ich gar nicht. Hatten die Pflegebedürftigen bisher ein größeres Mitbestimmungsrecht?

Ja, ganz eindeutig ja. Und zwar insoweit, als ein Großteil der Pflege auf Kosten der Krankenkassen gemacht worden ist und bei den Kassen das Bedarfsdeckungsprinzip gilt. Da hat der Arzt mit dem Pflegebedürftigen zusammen die Pflegeleistung festgelegt. Und das wurde von der Station erbracht und über die Kassen abgerechnet.

Kritiker haben moniert, daß nur diejenigen von dem Gesetz profitieren, die mindestens für sechs Monate pflegebedürftig sind.

Durch die Beschlüsse des Gesundheitsausschusses des Bundestages ist da einiges verbessert worden. Man wollte mit der Regelung ursprünglich verhindern, daß Langzeitkranke, die wieder gesund werden, in die Pflegeversicherung kommen und es damit zu einer Verwischung von Pflegeleistung und Krankenversicherungsleistung kommt. Es ist jetzt klargestellt, daß auch jemand, der weniger als sechs Monate lang hilfsbedürftig ist, Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommen kann, wenn er möglicherweise nicht mehr länger als sechs Monate lebt.

Das heißt, Aidskranke fallen zumindest im Endstadium der Krankheit doch unter das Pflegegesetz.

Ja. Das gilt auch für schwer Krebskranke, die manchmal nur relativ kurz pflegebedürftig sind, bevor sie sterben.

Sie haben gesagt, die Pflegeversicherung bewirke eine Entsolidarisierung der Pflegebedürftigen. Können Sie erklären, was Sie damit meinen?

Vor allem in der Freien Wohlfahrtspflege war es bislang ein ungeschriebenes Gesetz, daß wir in einem Pflegeheim alle Menschen gleich behandeln ohne Rücksicht darauf, welcher Rasse oder Nation sie angehören, und egal ob sie Sozialhilfeempfänger oder Selbstzahler waren. Jetzt wird ein abgestuftes System von Grundleistungen und Wahlleistungen eingeführt. Das bedeutet, wir werden Leute haben, die nur die Grundleistungen in Anspruch nehmen können, nämlich Sozialhilfeempfänger und solche, die nichts dazuzahlen können und wir haben die „Reichen“, die sich durch Zusatzleistungen sozusagen ihr Los verbessern können. Das bedeutet, daß in dem Heim plötzlich Leute sind, die mehr bekommen als andere, weil sie es sich leisten können. Wir kritisieren, daß das Entscheidungskriterium nicht der tatsächliche Pflegebedarf ist, sondern die Finanzkraft des Pflegebedürftigen. Das führt letztlich zu einer Entsolidarisierung im Pflegeheim. Wir bekommen ein Zwei-Klassen-System, wo die, die es sich leisten können, eine bessere Versorgung bekommen und die anderen eine Pflegeleistung auf Sozialhilfeniveau.

Aber man konnte sich ja bisher auch schon gegen das Pflegefallrisiko privat versichern.

Das war bisher eine Domäne der privaten Altenheime. Bislang waren in den Heimen, die in freier, gemeinnütziger Trägerschaft sind Zusatzleistungen in der Regel nur in ganz geringem Umfang möglich. Nach dem neuen Gesetz wird aber unterschieden in Leistungen für Unterkunft und Verpflegung, die sogenannten Hotelkosten, die eigentliche Pflegeleistung und drittens die sogenannten Zusatzleistungen.

Was muß man sich unter Zusatzleistung vorstellen?

All das, was nicht als ,soziokulturelles Existenzminimum‘ gilt, das im Bundessozialhilfegesetz definiert ist. Zusatzleistungen können ein Nachtisch, Kaffee und Kuchen, ein zusätzliches Bad oder auch ein Einzelzimmer sein. Die Zusatzleistung ist eine Wahlleistung, die jeder selbst bezahlen muß.

Welche Essentials müßte die SPD im ab Dienstag tagenden Vermittlungsausschuß durchsetzen, damit Ihre Vorbehalte ausgeräumt werden?

Die Frage, wer einen Beitrag zur Pflegeversicherung leisten muß, müßte sich – wie die SPD vorgeschlagen hat – nicht an der Beitragsbemessungsgrenze der Krankenkassen (Monatseinkommen von 5.400 Mark; d.Red.), sondern an der höheren der Rentenversicherung (7.000 Mark) orientieren. Dann wäre der Topf größer. Damit könnte man die Leistungen für die Pflegebedürftigen erhöhen oder ein zusätzliches Pflegegeld für die Pflegebedürftigen einführen, die jetzt leer ausgehen, weil sie nicht mindestens einmal am Tag Hilfe brauchen. Außerdem müßte die Finanzierung der Investitionskostenzuschüsse für Pflegeheime sofort geregelt werden und nicht einem Staatsvertrag überlassen bleiben. Das hat man bisher einfach aus dem Gesetz ausgeklammert und gesagt, da werden sich Bund und Länder schon noch einig werden. Aber da habe ich meine Bedenken. Das dritte wäre, daß das Recht des Pflegebedürftigen, über seine Pflege mitzubestimmen, verstärkt wird. Pflegebedürftigkeit ist ein Dauerzustand, also eine Lebensform und nicht nur eine vorübergehende, sozusagen unfallähnliche Reparaturphase eines Menschen. Die Lebensgestaltungswünsche der Betroffenen müssen viel stärker zum Ausdruck kommen, als es bisher im Gesetz vorgesehen ist. Interview: Dorothee Winden