"Jetzt geht es ans Eingemachte"

■ Minustemperaturen und fast alle Notunterkünfte für Obdachlose voll / Bis zu 10.000 Menschen "Leben" in Berlin auf den Straßen / Vor der mörderischen Kälte suchen sie tagsüber Zuflucht in Wärmestuben

Bei minus zehn Grad hilft auch die Pulle Schnaps nicht mehr. Den Menschen, die auf der Straße leben, „geht's jetzt ans Eingemachte“, sagt Jürgen Bustert, Sozialarbeiter bei der Beratungsstelle für Obdachlose. Gestern suchte er seine Klientel auf am Hauptbahnhof. „Alle quer durch die Bank sind krank: Grippe, Fieber. Die offenen Beine schmerzen sie jetzt besonders.“ Bustert schätzt die Zahl der Obdachlosen in Berlin, die auf Parkbänken oder unter Brücken übernachten müssen, auf 4.000, die Senatsverwaltung für Soziales dagegen spricht von bis zu 10.000.

Ein Bett kann ihnen auch die Beratungsstelle in der Levetzowstraße kaum noch vermitteln. „Alles dicht“, sagt Dorothea Simon- Zeiske, ebenfalls Sozialarbeiterin in der Beratungsstelle. Für keinen der 50 Hilfesuchenden, die gestern vorbeischauten, hatte sie einen Schlafplatz. „Manche“, sagt sie resigniert, „kommen auf den Socken hier herein.“

Die Winter-Notunterkünfte, die das Diakonische Werk, die Caritas und die Heilsarmee am 1.November geöffnet hatten, meldeten bereits vier Tage später alle 200 Betten belegt. Den Frierenden bleiben die 23 Wärmestuben Berlins, die ebenfalls von Kirchengemeinden und Wohlfahrtsorganisationen betrieben werden. Die haben zwar nur tagsüber geöffnet, bieten bei Tee, Stullen oder heißer Brühe aber wenigstens stundenweise Zuflucht vor der lebensbedrohenden Kälte. In vielen Wärmestuben können sich Obdachlose auch duschen und Wäsche waschen. „Damit die Leute sauber und mit Würde zum Amt oder zum Arzt gehen können“, erklärt Simon-Zeiske.

Ein Silberstreif am schneeverhangenen Horizont: Ab nächste Woche darf die Beratungsstelle 30 Obdachlose in eine alte Schulturnhalle zum Schlafen schicken. Noch letztes Jahr hatten während der bittersten Kälte bis zu 50 Leute auf den geheizten Fluren und Treppenabsätzen der Beratungsstelle geschlafen. Aber diese Aktion möchten die Mitarbeiter nicht unbedingt wiederholen: „Wir sind doch nicht die Lückenbüßer des Senats.“ Im Kampf gegen das Versagen der Politik hat Frau Simon-Zeiske schon „spannende Koalitionen“ ausgemacht: Besagte Turnhalle belegte noch im Sommer der Fundus der Deutschen Oper. „Bei der Kunst wird's genauso eng wie bei uns.“

Von einer ungewöhnlichen Koalition zeugt auch eine Presseerklärung der „Republikaner“ vom letzten Samstag, in der sie den Senat auffordern, ohne „menschenunwürdige Diskussionen“ in jedem Innenstadtbezirk mindestens zwei U-Bahnhöfe des Nachts für Obdachlose zu öffnen.

BVG-Sprecher Wolfgang Göbel stellte allerdings schon am Montag klar, daß die Bahnhöfe „aus Sicherheitsgründen“ auch dieses Jahr verriegelt würden – obwohl BVG-Personal über Nacht auf den geschlossenen Bahnsteigen bleibt. „Die Obdachlosen“, sagte Göbel, „erhalten von unseren Mitarbeitern dann aber eine Liste mit Unterkünften in der Nähe.“ Und die sind schon jetzt rappelvoll. Kai Strittmatter