Einer flog übers Kaderkino

Die Prager Film-und Fotoakademie Famu tut sich schwer, ihr postkommunistisches Gesicht zu finden  ■ Von Thomas Niederberghaus

Männer kauern auf Holzbänken wie Protagonisten in einem Beckett-Stück. Gleichmütiges Grinsen, unerschütterliche äußerliche Ruhe, rasende Unruhe innerlich. Ein kurzes Aufflackern in den Augen, eine schnelle Mahlzeit und dann wieder die Apathie in den Gesichtern dieser Kranken. Sie sind Sklaven ihrer erlernten Hilflosigkeit. Sie liegen, sitzen und essen. Nur einmal stört sie etwas aus dem kollektiven Stumpfsinn auf: Wie in Trance schlurfen die Männer zur Wand. Einer von ihnen lacht sich halb kaputt.

Elke Schulze-Bisping läßt das Leben in einer rumänischen Irrenanstalt als Theateraufführung erscheinen. Die Fotografin hat die Welt der Kranken mit vorsichtigem, subtil dramatisierendem Blick erfaßt, sie läßt den Patienten ihre Individualität und liefert stilsichere Dokumentationen, statt sensationshungrige Reality-Fotografie.

Ihre Bilder sind Teil einer Ausstellung, die Prags Film- und Fotoakademie Famu nun im Lichtensteinpalast der Moldau-Metropole ausgestellt hat. Immerhin mit dem stolzen Titel „Die besten Fotografien von Famu-Schülern der letzten drei Jahre“.

Famu schmückt die Visitenkarte. Den Absolventen der Kunstakademie eilt ein erstklassiger Ruf voraus, mit dem sie zum Teil nicht immer Schritt halten können. Das mag an den Namen früherer Vertreter der Akademie liegen, an Regisseuren wie Jiri Menzel und Milos Forman, die eben jenes Gemisch aus Cinéma- verité, „gespielter Reportage“ und skuriller Burleske kultivierten, das in den Fotografien von Elke Schulz-Bisping noch immer zu sehen ist. Kaum etwas könnte den Zeitsprung, den die Prager Schule gemacht hat, besser illustrieren als der Gegensatz zwischen den düsteren, dramatischen Fotografien und dem lauten „Einer flog über das Kuckucksnest“ Formans. Es mag aber auch an Prag selbst liegen, oder auch an den strengen Aufnahmebedingungen. „Wir wollen Persönlichkeiten, die schon etwas mitbringen“, sagt Miroslav Vojtechovsky, Fachbereichsleiter für Fotografie.

Gerade das gute Image gibt der Schule enorme Vorschußlorbeeren bei der Überbrückung der momentanen Durststrecke. Denn seit der Samtenen Revolution leidet die Famu unter den gleichen Problemen wie die ganze tschechische Gesellschaft: Auf vielen Stühlen sitzen Vertreter alter Kader. Sie bremsen die Suche nach einer neuen Identität. Und so ist auch der frische Anstrich vieler Famu- Räume nur das äußerliche Indiz einer Reform, die in den Köpfen vieler Ordinarien nicht stattfinden will.

„Die Lehrer sind dumm, sie sperren sich gegen veränderte Bedingungen“, sagt Pavel Stecha, der selbst Professor für Dokumentation und Reportage an der Famu war. Inzwischen hält er allerdings nur Gastvorlesungen. Seine Kritik richtet Stecha gleichzeitig an die „tschechischen Studenten“, die er als „passiv und lasch“ bezeichnet.

Etwa 40 StudentInnen aus dem Osten und 20 aus dem Westen sind im Fachbereich Fotografie. Mittwoch abend: kleine Krisensitzung. Der Lehrplan ist schlecht konzipiert, meint eines der Nachwuchstalente. Studenten aus dem zweiten Jahr hätten Vorlesungen auf dem Plan, die sie bereits im ersten gehört haben. Zudem beklagen die Famu-Schüler, daß den progressiven Lehrkräften der Schule, so beispielsweise Zdenek Primus, zu wenig Gehör geschenkt wird: Der Kunsthistoriker fordert schon seit geraumer Zeit, eine freiwerdende Famu-Professur an eine Frau zu vergeben. Doch soweit ist man in Prag noch nicht.

Honsa Kadoun, dessen Bilder ebenfalls im Lichtensteinpalast ausgestellt sind, erklärt, daß auch der Bereich Kunstfotografie stiefmütterlich behandelt wird. Kadoun hat sich deshalb – wie einige andere Studenten – auf privater Ebene einen Meister gesucht: Er arbeitet mit dem namhaften Fotografen Ivan Pinkava zusammen. Natürlich ist die Handschrift des 32jährigen Pinkava in Kadouns Portraits unverkennbar; dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, hält sich derzeit das hohe Niveau der Nachwuchsfotografen an der Moldau. Das zumindest beweist die Ausstellung – übrigens alles Schwarzweiß-Prints, Farbfotografie steckt an der Kunsthochschule noch in den Kinderschuhen.

Mit weit schwierigeren Problemen kämpft an Prags Famu der Fachbereich Film und Fernsehen. Negative Schlagzeilen machte die Akademie erstmals im vergangenen Jahr. Der Grund: Die Studenten fühlten sich von der Film-Koryphäe Jiri Menzel sträflich vernachlässigt und machten Remmidemmi. Resultat: Menzel packte die Koffer. In einem Interview äußerte er später, daß er gegen „die überflüssigen Leute“ Front gemacht hätte, um die Schule effektiver zu gestalten. Und all jene, die sich bedroht fühlten, hätten seine Abwesenheit genutzt, um die Studenten gegen ihn aufzuhetzen. Die Famu war für Menzel in der Tat nur ein kleines Standbein: Erst vor wenigen Wochen hat er die Dreharbeiten zu seinem neuesten Film „Conkin“ abgeschlossen. Der Streifen läuft im nächsten Jahr an. Er wird schon als würdiger Nachfolger zu Menzels Erfolgsfilm „Scharf verfolgte Züge“ (1967) gehandelt.

Umgekehrt scheint auch die Famu auf das Aushängeschild Menzel verzichten zu können. Gleichwohl herrscht noch immer dicke Luft. „Ich möchte die interne Stimmung nicht wiedergeben“, sagt Filmproduzent Jaromir Kallista.

Im Fachbereich Film und Fernsehen sei ein Punkt erreicht, an dem niemand genau wisse, wie es weitergeht. Die Probleme seien komplexer, grundsätzliche Fragen stünden zur Diskussion. Beispielsweise: Wie entwickelt sich der tschechische Film? Hat er überhaupt noch eine Chance? Welche Funktion kommt der Famu zu?

Kallista hofft, daß sich die Kunstakademie nicht in Richtung Amerikanisierung entwickelt. Ziel müsse es sein, an die Tradition des tschechischen Films anzuknüpfen, ohne dabei einem aktuellen Trend hinterherzuhinken. Bedauert wird an der Famu auch, daß die Brücke zu den legendären Barrandov-Studios, dem 1931 von den Brüdern Milos und Vaclav Havel erbauten Konkurrenzbetrieb zu Babelsberg, inzwischen völlig gekappt ist. Alle tschechischen Produktionen laufen zur Zeit außerhalb von Barrandov, während bereits Ende des vergangenen Jahres das Sonderbergh- Drama „Kafka“ in Originalkulissen gedreht und für die Hollywood-Pictures-Produktion „Swing Kids“ gleich auf vier Sets innerhalb des Studio-Komplexes das alte Hamburg aufgebaut wurde. Immerhin bietet sich Prag neben Budapest für Drehs in authentischen Locations der dreißiger Jahre an: „Prag ist eine sehr kleine Stadt“, meinte der Produktions-Designer Allan Cameron über die Standortwahl zu „Swing-Kids“. „Die Stadtmitte ist so beschaffen, daß sie für jede europäische Stadt stehen kann, die sich ein Filmemacher wünscht. Das ist ein enormer Vorteil. Der Übergang in das moderne Zeitalter vollzieht sich hier sehr langsam und steht noch in den Anfängen, es gibt noch Straßen mit Kopfsteinpflaster, reich verzierten Fassaden und Farbe. Da keine Bombenschäden zu beklagen sind, stehen überall noch wunderschöne Gebäude mit vielen interessanten Ecken und Winkeln.“ Fast konkurrenzlos bleiben Stadt und Studios also bis auf weiteres ein Anlaufziel für historische Filme. Wenn sich das Unternehmen zu einem amerikanischen Medienimperium entwickelt, wie Famu-Studenten zu Recht befürchten, gebe es für den tschechischen Film und somit auch für sie dort keinen Platz mehr.

Auch den Rotstift bekommen die Zöglinge inzwischen zu spüren. Zuschüsse des Schulministeriums stehen in keinem Verhältnis mehr zu den steigenden Kosten. Folge: Im Filmstudio der Akademie wurden die ersten Übungen gestrichen, und gedreht wird vornehmlich nur noch auf Video. „Es fehlt auch Geld für qualifizierte Lehrkräfte“, moniert Helena Uldrichova, die Produktion an der Famu studiert.

Viele Professoren arbeiteten noch in realsozialistischer Beamtenmentalität. Was ganz gut zu den Gesetzen und Richtlinien der Schule paßt, denn auch die sind noch aus vorrevolutionärer Zeit. Somit verflüchtigt sich an der Famu noch der Gedanke, einen Sponsoren für die Schule zu finden, denn nach dem alten Gesetz würde das Geld nicht in der Akademie bleiben, sondern müßte an den Staat abgeführt werden.