Serbische Legenden

Beim 42. Internationalen Filmfestival in Mannheim spaltet ein serbischer Film die Gemüter. Ist Zurückhaltung im Dokfilm eine Tugend, oder machen sich die Filmemacher dadurch zu Apologeten der Kriegstreiber?  ■ Von Christiane Peitz

Radovan Karadžić vor der Kamera, die erste. „Wenn Sie dort Mißhandlungen festellen, werden die Verantwortlichen bestraft, keine Frage.“ Schnitt. Ehemalige Häftlinge des serbischen Konzentrationslagers Omarska berichten von Mißhandlungen und von denen, die nicht überlebt haben. Schnitt. Einer der Lagerwächter auf die Frage nach Folter und Ermordungen: „Alles Lüge.“

Radovan Karadžić vor der Kamera, die zweite. Er habe nichts gegen die Aufteilung Bosniens in Kantone, solange der größte Kanton den Serben bliebe. Die Offiziere lachen. Schnitt. Dorfbewohner singen serbische Volkslieder. Schnitt. Eine Mutter trauert. Kinder klettern auf einen abgestellten Panzer. Ein Soldat hebt ein Lämmchen über den Zaun. Ein russischer Dichter zollt der Truppe seinen Respekt und probiert die Kanone aus. Wohin er schießt, ist nicht zu sehen. Vielleicht in die Luft, vielleicht auf Gebäude, vielleicht auf Menschen. Die Kamera hält auf den Dichter. Karadžić war Sonntag in der ARD zu sehen, im Rahmen eines SWF-Dokumentarfilms von Monika Gras über das Todeslager Omorska. Die zweite Szene stammt aus „Serbische Legenden“, einer BBC-Dokumentation des polnischen Regisseurs Paul Pawlikowski, offizieller Wettbewerbsbeitrag des Mannheimer Filmfestivals, das vergangenen Samstag zu Ende ging. Dem Regisseur zufolge handelt es sich um eine kritische Betrachtung des Mythos vom auserwählten Serbenvolk und der Gefahren von Nationalismus und Ethnozentrismus. Den Bildern zufolge geht der Regisseur Karadžić und Konsorten auf den Leim und verschafft ihren Lügen ein Podium, macht sie salonfähig. Nichts wird ihnen entgegnet, keine Information, keine Fakten, keine Äußerung der Opfer. Ein naiver, gefährlich instinktloser Film, der unreflektiert eine propagandistische Bildersprache übernimmt, im schlichten Glauben, die Selbstdarstellung entlarve sich irgendwie selbst. Der Kriegstreiber als Pappkamerad: Natürlich sehen Diktatoren lächerlich aus, natürlich wirkt jeder Nazi-Propagandafilm heute wie eine Groteske, natürlich klingt das Gerede von den „ethnischen Säuberungen“ nach absurdem Größenwahn. Aber die groteske Fassade kaschiert einen realen Völkermord. „Serbische Legenden“ verharmlost einen Krieg zum Kinderspiel.

Das wüßten wir doch alles, wir bräuchten nicht auch noch die Leichen zu sehen, verteidigte Festivaldirektor Michael Kötz seine Entscheidung für die Aufnahme des Films in den Wettbewerb und lobte die unpädagogische, antimoralische Machart der „Serbischen Legenden“. Wir wissen es eben nicht.

Über den Krieg in Bosnien, über das, was Karadžić zu verantworten hat, über Wahrheit und Lüge in der Balkan-Berichterstattung sind wir schlecht informiert.

„Die Deutschen wollen immer gleich eine Meinung“, kritisierte eine russische Zuschauerin während der erhitzten Debatte die Kritiker der „Serbischen Legenden“. Aber es geht nicht um Meinung, sondern um Haltung, um Positionen. Wer zur Kamera greift, muß wissen, für wen er die Bilder macht. Pawlikowski hat die Bilder für die Serben gemacht. Auch die SWF-Dokumentation enthält sich einer Meinung und spart mit Off- Kommentaren. Aber sie stellt gegenüber: die Aussagen der ehemaligen Häftlinge – vor allem muslimische Intellektuelle, aber auch Serben – gegen die der Wärter und des Serbenführers. Der Zuschauer mag sehen, wem er Glauben schenkt. Der Film ist den Gefangenen gewidmet.

Das im Kino und besonders im Dokumentarfilm-Genre in Mode gekommene Argument, das Publikum könne selber denken, erklärt die Zurückhaltung zur Tugend an sich. Bloß kein Kommentar. Ob es sich um Massenmörder, Neonazis, Söldner oder Dikatoren handelt: Täter haben Konjunktur, von Thomas Heises „Stau“ über „Henry: Portrait of a Serial Killer“, Romuald Karmakars „Warheads“ und Winfried Bonengels „Beruf: Neonazi“ bis zum Mainstream-Film „Kalifornia“. Die Häufung macht mißtrauisch. Nicht, daß hier pädagogisierendem Zeigefingerkino das Wort geredet werden soll. Aber die Verteidigung des anything goes, die die Moral per se zum Schimpfwort erklärt, stellt die Mündigkeit des Zuschauers nicht weniger in Frage. Sie protegiert Filme, die nichts wollen, für Zuschauer, denen jeder Thrill recht ist. Mittlerweile gilt es gerade in der Linken als schick, der Faszination des Bösen mal eben zu erliegen und stolz darauf zu sein. Selbst Syberberg hat es sich so leicht nicht gemacht.

Unmittelbar nach den „Serbischen Legenden“ stand in Mannheim „Murder Stories“ auf dem Programm, ein Dokumentarfilm der Bulgarin Iglika Trifonova. Auch dieser Film portraitiert Täter, Mörder, die im Gefängnis sitzen, auch dieser zeigt sie von einer eher sympathischen Seite: Sie bereuen. Aber anders als Pawlikowski bezieht die Filmemacherin Stellung, sie hat ein Anliegen. Die drei Mörder, die vor der Kamera von ihrer Tat berichten, sind zum Tod verurteilt. Achtzig Prozent der bulgarischen Bevölkerung haben kürzlich für die Todesstrafe votiert, einer der Portraitierten wurde nach der Vorführung des Films in Sofia begnadigt. Auch „Murder Stories“ enthält sich eines Off-Kommentars und fügt den Talking Heads lediglich eine nüchterne Schwarzweiß-Fotografie hinzu, die in ihrer spröden Schönheit die Gleichgültigkeit anklagt, die den Todeskandidaten in Bulgarien und anderswo entgegenschlägt.

Ein unspektakulärer, bescheidener Film, in Mannheim einer der wichtigsten. Im Kontrast zu „Serbische Legenden“ und zum von Ästhetizismus und Dilletantismus dominierten Festivalprogramm stellte er klar, was im Kino allemal aufregender ist als der amoralischste Thrill und das schrillste Kunstkino: wirkliche, lebendige Menschen. Gesichter, die sich einprägen.

Ansonsten präsentierte sich das Autorenkino in Mannheim: ratlos allerorten. Kaum Erzählkino, wenig durchdachtes, Experimente um ihrer selbst willen, aufgesetzte Originalität. Eine der wenigen Ausnahmen: „Die verbotene Expedition“, ein Film des Niederländers Peter Delpeut, die Jury verlieh ihm den Hauptpreis. Delpeut hat Filmdokumente von historischen Polarexpeditionen zu einer fiktiven, surrealen Abenteuergeschichte montiert, bei der mitten im ewigen Weiß vulkanische Lava glüht und am Südpol ein Eisbär gejagt wird.

Ein Verwirrspiel um Dichtung und Wahrheit, Wahrnehmung und Manipulation. Bilder lügen nicht. Delpeuts Film liefert den spielerischen Gegenbeweis. Jeder weiß, daß es am Südpol keine Eisbären gibt. Wer „Die verbotene Expedition“ gesehen hat, ist sich nicht mehr so sicher.

Eine der Frauen aus Omarska schlägt für ihre Folterer eine Strafe vor. Man sollte sie 24 Stunden am Tag dazu zwingen, sich einen Film anzuschauen, der zeigt, was sie selbst getan haben. Die Macht der Bilder: Als die ersten Fotos aus dem Lager auftauchten und sich ein britisches Kamerateam daraufhin um Dreherlaubnis bemühte, geriet Omorska ins öffentliche Blickfeld und erregte internationale Aufmerksamkeit. Die Folge: Vor einem Jahr wurde das Lager aufgelöst. Der Chronist ist mehr als bloß Zeuge. Seine Entscheidung, wovon er Zeugnis ablegt und wovon nicht, hat Konsequenzen; im Extremfall kann sie Leben retten.

Wer zuschaut, greift ein. Die Kamera mag objektiv sein. Wer behauptet, auch der, der sich ihrer bedient, sei neutral, macht sich die Logik der Täter zu eigen.