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Der Kanzler und sein Herausforderer

Während der gestrigen Generaldebatte im Bundestag probten Kohl und Scharping die erste direkte Konfrontation / Scharping: Regierung hat ihr Kapital an Hoffnung verspielt  ■ Aus Bonn Tissy Bruns

Die Sozialdemokraten, über die Helmut Kohl in glorreicheren Regierungszeiten gern so beiläufig sprach, als wische er gerade ein Stäubchen vom Ärmel, sie haben für den Kanzler wieder Namen. Gelegentlich: Herr Klose. Und immer öfter: Herr Ministerpräsident Scharping.

Der Kanzler und sein Herausforderer probten gestern die erste direkte Konfrontation. Rudolf Scharping, seit wenigen Monaten erst Vorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD, antwortete in der Generaldebatte des Bundestages auf den altgedienten Regierungschef. Erst der SPD-Fraktionschef, dann der der Union, darauffolgend die Redner von FDP, Bündnis 90/Grüne und PDS – das übliche Ritual dieser Parlamentsaussprache hatten die Abgeordneten zuvor etwas lustlos hinter sich gebracht. Und mit einer Abweichung: Wolfgang Schäuble hatte seinem Stellvertreter von der CSU für die Antwort auf Hans-Ulrich Klose den Vortritt gelassen und sich hinter Scharping plaziert. Doch die Reihe Kohl – Scharping – Schäuble rundete erst richtig ab, daß dieser Tag im Parlament ein Tag für die SPD, nicht für das Regierungslager war.

Kohl begann mit ernster Miene und einem „persönlichen Wort“ an Scharping. Aber auf seiner Suche nach den Schwachpunkten des SPD-Vorsitzenden hatte der Kanzler keine glückliche Hand. „Außerhalb des Erträglichen“ habe Scharping auf dem SPD-Parteitag über Steffen Heitmann geredet, und man müsse doch „bei aller Gegnerschaft den Stil im Umgang wahren“, mahnte der Kanzler an – und erinnerte damit treffsicher an seine eigenen Schwierigkeiten bei diesem Thema. Auch Schäubles mehrfach wiederholte Attacke auf Scharpings „Entgleisung“ krankte schlicht daran, daß das Thema Heitmann für die Union peinlicher ist als für die SPD.

Zum eigentlichen Gegenstand der Debatte, den großen innen- und außenpolitischen Linien, griff Kohl ganz auf das bewährte Repertoire zurück. Weil der SPD- Kanzlerkandidat in dieser Hinsicht nicht viel vorzuweisen hat, präsentierte sich gestern der Weltpolitiker Kohl. Bevor er auf den Standort Deutschland kam – zu dem Kohl nach vier Parlamentsreden nichts Neues mehr sagen konnte –, führte der Kanzler sein Publikum von China über Moskau zum Blauhelm-Thema. „Nicht bündnisfähig und nicht regierungsfähig. Sie haben nichts dazugelernt“, befand der Regierungschef Richtung Opposition.

Die war damit nicht zu treffen, jedenfalls gestern nicht. Rudolf Scharping, dem auch Wohlmeinende kein rhetorisches Talent nachsagen, redete sich gestern nach dem matt und unlustig wirkenden Kanzler richtig in Schwung. In den vier Jahren nach dem Fall der Mauer habe die Regierung das große Kapital an Hoffnung fast vollständig verwirtschaftet, sei unfähig, die nötige Aufbauleistung einzufordern. Nicht nur über den Industriestandort, sondern über den Lebensstandort Deutschland müsse endlich wieder geredet werden. Die Regierung flüchte mangels Orientierungsfähigkeit auf die Ablenkungsfelder Werte, Nation und Inkaufnahme von Ängsten – es präsentierte sich ein siegesgewisser SPD-Vorsitzender. Scharping, der im ersten Teil seiner Rede gegen die allgemeine Unruhe aus den Regierungsparteien anreden mußte, verblüffte Union und FDP insbesondere mit allerlei Paraden, die darauf hinausliefen, den Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen. Gar nichts hat der SPD-Vorsitzende gegen die Werte-Beschwörungen aus der Union. Es wäre ihm nur noch lieber, wenn sie auch praktiziert würden. Ungeniert vergnügt führte Scharping die Regierungsparteien mit der Methode vor, mit der diese ihrerseits seit drei Jahren die SPD attackiert haben: mit Zwist in den eigenen Reihen. Auf Kohls Seite findet sich Scharping, wenn es um Europa und gegen Stoiber geht. FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms rutschte nach zwei Zwischenfragen förmlich in seinen Stuhl zurück, als Scharping die Risse im liberalen Lager weidlich auswalzte. Da fällt kaum auf, daß die Frage von Herrn Solms im Grunde unbeantwortet blieb. Und den CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, der mit einer Zwischenfrage die Ehre von Edmund Stoiber retten wollte, begrüßte Scharping ganz großmütig: „Bitte, wenn Sie sich auch noch versuchen möchten.“ Da half auch der anschließende (und aggressive) Auftritt von Wolfgang Schäuble nichts. Weder mit Heitmann noch mit den schleswig-holsteinischen Affären konnte Scharping das eroberte Terrain wieder streitig gemacht werden.

Keine Frage, daß die SPD-Fraktion ganz und gar hinter ihrem Vorsitzenden steht. Das erste Mal machte gestern ein Sozialdemokrat im Bundestag ahnen, der Regierung Kohl könne im nächsten Jahr tatsächlich der Wechsel drohen. Als Scharping die Tugenden der dreizehnjährigen SPD-Kanzlerschaft in der Geschichte der Bundesrepublik (Frieden, Entspannung) aufzählte, kam aus den Reihen der Union tatsächlich der Ruf: Rekordverschuldung. Die SPD-Fraktion bog sich vor Lachen über den Bänken.

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