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Ein Phantom soll Saubermann spielen

Programme interessieren Wählerinnen und Wähler einer potentiellen „sechsten Partei“ wenig – Parteienkritiker sind gefragt: In den Regionen der Republik sind Bürgerbewegungen wie die jüngst erfolgreiche Hamburger „Statt Partei“ im Kommen.

Während der ersten Hochrechnungen müssen die Neuen noch zittern. Dann knallen die Sektkorken: Die Fünfprozenthürde zum Einzug in den Bundestag ist geschafft, die Elefantenrunde bekommt wieder Zuwachs. Der Chef der „sechsten Partei“ hockt vor den Kameras gemeinsam mit den Vorsitzenden jener „alten“ Bundestagsparteien, deren Versagen er seinen Erfolg verdankt.

Die Szene vom Abend des 30. Oktober nächsten Jahres ist Phantasie – für manche ein Wunsch, für die Strategen der im Bundestag vertretenen Parteien ein Alptraum. Noch ist längst nicht entschieden, ob sich unzufriedene Politikmacher aus allen Teilen der Republik auf Bundesebene zu einer „sechsten Partei“ zusammenraufen werden. Die Idee geistert durchs Land, seitdem im September in Hamburg die Statt Partei aus dem Stand die Fünfprozenthürde meisterte. Noch immer melden sich in der Geschäftsstelle der neuen SPD-Verhandlungspartner täglich 30 bis 40 Ratsuchende aus der ganzen Republik, die alle das gleiche Motiv treibt: sie sind unzufrieden mit den Parteien und wollen in der Politk mitmischen.

In den Regionen sind die Bürgerbewegungen à la „Statt Partei“ im Kommen. Von der Wirtschaftspolitik enttäuschte Mittelständler, Geschaßte und Abtrünnige etablierter Parteien sowie Wählerinitiativen melden sich zu Wort: In Berlin ist vor wenigen Wochen eine „Bürger- und Stadtpartei“ (BSP) ins Leben gerufen worden, im Saarland will eine Initiative eine Partei nach Hamburger Vorbild gründen. Vom Unmut über den Umzug nach Berlin profitiert in Nordrhein-Westfalen die „Rheinland-Partei“, im Osten traten die Thüringische Volkspartei, die Mitteldeutsche Partei und die Deutsche Partei der Steuerzahler vor die Presse. In Bayern schließlich peinigt Maastricht-Kläger Manfred Brunner die CSU: Die Kandidatur seiner „Bürgerbewegung“ gefährdet bei der Europawahl den 42-Prozent-Sockel, ohne den die Christsozialen bundesweit nicht über die Hürde kommen.

Zwei Monate ist der Erfolg von Hamburg her. Die Zahl der potentiellen Wählerinnen und Wähler der Neuen ist seither konstant: Zwischen neun und elf Prozent, so ergaben verschiedene infas-Umfragen, können sich vorstellen, für eine „sechste Partei“ nach Hamburger Vorbild zu stimmen. – Kurz vor Anbruch des Superwahljahres 1994 müssen solche Zeichen ernst genommen werden. Die Stafette von insgesamt 19 Entscheidungen an der Urne heizt die Stimmung an – schließlich werden auch Mißerfolge auf Landes- oder Kommunalebene bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr ihre Wirkung nicht verfehlen.

Aber in Bonn sind die Rebellen aus Hamburg offiziell kein Thema. Niemand will die „sechste Partei“ aufwerten. „Wir haben ein Auge drauf, aber das beunruhigt uns nicht sonderlich“, erklärt Sprecher Hans-Rolf Goebel von der FDP, deren Mittelstand-Klientel bei den neuen Bürgerbewegungen stark vertreten ist. Das Phantom von der Alster hält auch Werner Schulz, Vorsitzender der Bundestagsgruppe von Bündnis 90/Grüne, nicht für einen ernst zu nehmenden Gegner: Eine Neugründung werde es nicht schaffen, sich auch nur auf einen einzigen Programmpunkt zu einigen. Diese Bewertung liegt nicht weit von der des parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Fraktion, Jürgen Rüttgers, der den Neuen nur auf kommunaler Ebene Chancen einräumt.

Tatsächlich denken über eine neue politische Kraft so unterschiedliche Menschen nach wie die Initiatoren der Lichterkette von München und ehemalige Mitglieder der „Republikaner“. Die Gemeinsamkeit erschöpft sich bislang im Versprechen, sich „näher am Bürger“ zu orientieren. Aber auf ein Programm kommt es den Wählerinnen und Wählern der „Statt Partei“ gar nicht an, wie Ursula Feist von infas bemerkt: „Auffallend ist, daß der Nachweis von Kompetenz zur Lösung von Problemen überhaupt nicht gefragt war.“

Auch auf Bundesebene könnten Wählerinnen und Wähler einen solchen „Vorschußkredit“ gewähren: Die „sechste Partei“, so Ursula Feist, ist in der Sicht der Wähler ein „hygienischer Faktor im Parteiensystem“, der für Reinigung sorgen soll.

Die Hoffnung der Wähler teilt auch der Soziologieprofessor Erwin K. Scheuch, der sich mit seiner Kritik an der Klüngelwirtschaft der Parteien in seiner Heimatstadt Köln einen Namen gemacht hat. Die Neuen könnten allein durch ihre Existenz einen Anstoß zur notwendigen Reform der Parteien geben, glaubt der Soziologe. Er berät das kommunale Bündnis „Wir – Kölner Bürgergemeinschaft“, will sich aber nicht als Kandidat aufstellen lassen.

Der Erfolg von Hamburg und die Bewegung, die er bundesweit ausgelöst hat, bietet in den Augen des Kölner Soziologen die Chance zur Reformierung der undemokratischen Praxis der Parteien: Offenlegung von politischen Entscheidungsprozessen, Öffnung der Wahllisten für Nichtmitglieder, Abschaffung der Listenaufstellung, mit deren Hilfe eigenwillige Abgeordnete regelmäßig auf Linie gebracht werden, so die Forderungen.

Allein als Treibsatz der in 40jähriger Gewöhnung an die Macht fett und träge gewordenen Parteien der Bundesrepublik würden die neuen Protagonisten ihre Erfüllung kaum finden. Schon für einen Bundestagswahlkampf müßten die neuen Gründer so viel Energie investieren, daß sie ihre bürgerlichen Berufe zumindest vorübergehend aufgeben müßten. Damit müßten sie das tun, was sie den Etablierten vorwerfen: einen Schritt hin zum Politprofi tun. Die Hamburger haben die Entscheidung über den Sprung über die Landesgrenzen erst einmal vertagt. Sie beauftragten den Vorstand, mit potentiellen Bündnispartnern in der ganzen Republik Kontakt aufzunehmen. Hans Monath, Bonn

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