„Im Scheißhaus pennen wir und auf der Bank“

■ Auf dem Aktionstag der Obdachlosen in Wedding hatten die Berber das Sagen

Der Winter erwischte Kollo vorm Bahnhof Zoo. Geweckt wurde er vom Fußtritt eines Polizisten. Und erst jetzt stellte Kollo fest, daß er von Kopf bis Fuß mit einer zentimeterdicken Schneeschicht gepudert war. Der Polizist befahl ihm, zu verschwinden. Es war vier Uhr früh.

Gestern stand Kollo auf dem Leopoldplatz zwischen den Ständen von Obdachlosen-Initiativen. Der Kirchenkreis Wedding hatte einen Aktionstag gegen Wohnungslosigkeit organisiert. Kollo verteilte Flugblätter, aber plötzlich hielt er inne. Sein Freund Lutz war zum Portal der Nazarethkirche gestürmt und brüllte über Mikrofon seinen ganzen Zorn heraus.

„Jetzt redet mal ein Berber“, rief er. „Drei Tage im Monat können wir in der Fasanenstraße (eine Notunterkunft; d. Red.) schlafen. Was machen wir die restlichen 27 Tage?“ Er holte tief Luft. „Im Scheißhaus pennen wir, auf der Parkbank. Könnt ihr euch das vorstellen, ihr mit euren warmen Ärschen?“ Dick vermummte Passanten eilten vorbei. Keiner, der abends in ein Daunenbett kriecht, kann sich das vorstellen.

Chris Lange und Renate Fiebig, zwei der OrganisatorInnen, wollen mit dem Aktionstag vor allem das Versagen der Politik anprangern. „Es ist ein Skandal“, sagt Frau Lange, daß die Notunterkünfte – 200 Betten für Berlins 4.000 bis 10.000 Berber – überfüllt und die „Läusepensionen“ unzumutbar seien. Und gleichzeitig stehen Wohnungen leer. Am Bahnhof Zoo vertreibt die Polizei die Obdachlosen auch tagsüber. „Eine Schweinerei“, findet Sozialarbeiter Hermann Pfahler. Der Aktionstag soll den Menschen einschärfen, daß ein warmes Bett keine Selbstverständlichkeit ist.

Ein paar retten sich mit Zynismus vor der Hoffnungslosigkeit. Die „Beratungsstelle für Obdachlose“ verteilt an ihrem Stand „Wohnungs-Lose“: jedes Los ein Treffer. Der erste Preis: ein Platz auf der Parkbank. Der zweite Preis ist ein Essensgutschein für die Wärmestube Wollankstraße, aber: „Gehe zu Fuß“, steht auf dem Los, „du hast keine BVG-Karte.“ Es gibt Livemusik, heißen Tee, das Technische Hilfswerk verteilt Kartoffelsuppe, das Diakonische Hilfswerk Winterkleidung. Große Transparente künden von den Forderungen der Obdachlosen und ihrer Helfer: „Grundrecht auf Wohnung in die Verfassung“ oder „Medizinische Versorgung auch ohne Krankenschein“.

Lutz beugt sich über den Kleidertisch. Das ist jetzt der zwölfte Winter „auf Rolle“ für den 37jährigen gelernten Maler, der nach einem Streit mit seiner Frau zu Hause auszog, zu trinken begann und dann die Arbeit verlor. „Mensch, haste noch 'n paar lange Unterhosen?“ Die Frau hinterm Tisch lacht: „Sicher, aber anprobiert wird nicht.“ Lutz greift in die Tüte mit den Socken und in den Karton mit den Unterhemden. Zum Schluß packt er sich ein Paar Gummistiefel in die Taschen, Größe 45. Er freut sich: „Die sind für meinen Kumpel.“ Sein Kumpel schläft in diesem Moment in einer Toilette im U-Bahnhof Hansaplatz. Mit 40 Grad Fieber. Kai Strittmatter