Mit der Einheit kamen die Kopftücher

Nach der Wiedervereinigung Jemens verschwand auch das fortschrittlichste Scheidungsrecht der arabisch-islamischen Welt. Der Protest der Frauen hält sich in Grenzen  ■ Aus Aden Karim El-Gawhary

Tochter der Stämme – Bint al- qaba'il – das Volkslied aus den siebziger Jahren besingt die Geschichte zweier Liebenden, die weitab der südjemenitischen Hauptstadt Aden leben. Die beiden würden gerne heiraten, jedoch der Schwiegervater steht dagegen. Zu arm ist der Auserkorene seiner Tochter, nicht standesgemäß die Verbindung. In der letzten Strophe des Liedes finden sie doch noch zueinander, denn die Frau beruft sich auf das neueingeführte Familienrecht, das sie vom Willen des Vaters unabhängig macht. Im südjemenitischen Familienrecht heißt es 1973: „Die Ehe ist ein Vertrag zwischen Mann und Frau, die einander gleich sind in ihren Rechten und Pflichten.“

Vor zwanzig Jahren brach die sozialistische Regierung mit dem traditionellen Familienrecht des Islams. Die Gleichstellung von Mann und Frau galt als einzigartig in der arabischen Welt. Die sozialistische Regierung des Südjemens zeigte sich stolz auf das erste Familienrecht, das nicht auf der Scharia – dem islamischen Recht – gründete. Seit der Vereinigung der ehemaligen Volksrepublik Südjemen mit dem islamisch strukturierten Nordjemen gilt das progressive Recht nicht mehr. 1990 wurde es Makulatur. Heute haben die Brautväter wieder das Sagen.

Vormals wich nicht nur das Ehe- und Scheidungsrecht von der Scharia ab. Auch die Vielehe – in allen arabischen Ländern außer Tunesien erlaubt – war vor der Vereinigung im Südjemen nahezu unmöglich – rechtlich gesehen. Geschieden werden konnte vor Gericht und auf Wunsch beider Ehepartner. „Die Streitenden mußten zur örtlichen Frauenunion gehen, wo versucht wurde, zwischen beiden zu schlichten“, blickt Ruqay Ali Muhammed, Führungsmitglied der jemenitischen Sozialisten und Mitbegründerin der Frauenunion, zurück. Einigten sich die Eheleute nicht, überstellte die Frauenunion den Fall mit einer Entscheidungsempfehlung an das Gericht. In der Regel hielten sich die RichterInnen an die Empfehlungen dieser staatlichen Schlichtungskommission. Das Sorgerecht für die Kinder bekam meist die Mutter. Ihr wurde auch die gemeinsame eheliche Wohnung zugestanden.

Das neue Familienrecht wurde klammheimlich im Fastenmonat Ramadan während der Parlamentsferien per Präsidialbeschluß eingeführt. Das neue Eherecht im wiedervereinigten Jemen ist nun wie das ehemalige nordjemenitische Recht eng an die klassische Auslegung der Scharia angelehnt. Den südjemenitischen Männern steht es jetzt gleich ihren nordjemenitischen Geschlechtsgenossen offen, bis zu vier Frauen zu heiraten. Einzige Bedingung: Die anderen Ehefrauen müssen informiert werden, und der Mann soll in der Lage sein, alle Frauen finanziell zu unterhalten. Allerdings bestimmt der Mann, ob diese Bedingungen erfüllt sind, die Frau kann keine gerichtliche Nachprüfung beantragen.

Taliq – taliq – taliq, dreimal muß der Mann diese Verstoßungsformel, den talaaq, vor zwei Zeugen aussprechen, dann gilt die Scheidung als rechtskräftig, und die Frau hat die gemeinsame Wohnung zu verlassen und zu ihrer Familie zurückkehren. Die Frau hat kaum Möglichkeiten, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Gelingt es ihr auch nicht mit Geld, ihn davon zu überzeugen, den talaaq auszusprechen, bleibt nur noch der fash, die Eheauflösung. Die Frau muß vor Gericht nachweisen, daß ihr der Mann Schaden zugefügt hat. Kommt er nicht für ihren und der Kinder Unterhalt auf, schlägt er sie, ist er alkoholabhängig oder hat sich mindestens zwei Jahre lang nicht mehr zu Hause blicken lassen, hat die Frau eine Chance, vor Gericht durchzukommen.

„Gestern“, erzählt Ruqay Ali Muhammed in der Zweigstelle des sozialistischen Büros im Hafen von Aden, „kam eine Frau ganz aufgeregt und weinend in den Frauenverein gelaufen.“ Ihr Mann habe ihr den talaaq schriftlich zugeschickt. Als sie am nächsten Tag nach Hause wollte, waren alle Schlösser der Wohnung ausgewechselt. Die zwei älteren Kinder habe der Mann behalten. Die fünf jüngeren ziehen jetzt mit der Mutter zu deren Eltern aufs Land. „Das ist ein Gesetz der Ignoranz und Zurückgebliebenheit“, sagt Ruqay Ali Muhammed wütend.

Danach gefragt, warum der Widerstand gegen das neue, islamische Familienrecht so verhalten ist, antworten die Männer in der Parteizentrale der fortschrittlichen Oppositionspartei Tagammua in Aden, das alte Familienrecht der Volksrepublik Jemen sei vollkommen realitätsfremd gewesen. Das Land lebe noch zum großen Teil in einer traditionellen Stammesgesellschaft mit all seinen islamischen Traditionen. Davon könne man die Menschen nicht so einfach trennen. Das alte Gesetz sei ohnehin nie über die Stadtgrenze Adens hinaus durchgesetzt worden.

In dem eine Tagesreise von Aden entfernten Wüstental Hadramaut, soll der Drang der Sozialisten nach staatlicher Frauenbefreiung dazu geführt haben, daß sie sich fortan überhaupt nicht mehr auf der Straße blicken ließen.

Die Philosophie-Professorin Thoraya Al-Manqusch winkt ab. „Der Mann war es, der nach dem alten Gesetz bei einer Scheidung zu seiner Mutter zu gehen hatte. Das hat allen Frauen gefallen. Deswegen sprechen die Männer heute alle vom Islam“, bemerkt sie sarkastisch. Vieles deutet darauf hin, daß es einige Männer gibt, denen das Graben nach ihren Wurzeln besonders gut gefällt. Die Scheidungsrate stieg mit der Möglichkeit des talaaq enorm an.

Auch die Vielehe scheint wieder Mode zu sein. Man erzählt sich in Aden die Geschichte von Abdel Razaq Al-Schaif, einem Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Partei, jener Partei, die damals das fortschrittliche Familiengesetz eingeführt hatte. Angeblich nahm er kurz nachdem das neue Gesetz erlassen wurde seine Sekretärin zur Zweitfrau.

As-Sabah Gissar arbeitet als Redakteur der gewerkschaftsnahen Zeitschrift Saut Al-Umal – Stimme der Arbeiter – und ist zuständig für die Leserbriefe, in denen sich einige Frauen bereits bitter über das neue Familienrecht ausgelassen haben. Für ihn hängt die Einführung des islamischen Rechts mit einem alten jemenitischen Nord-Süd-Konflikt zusammen. Heute versuche man im Norden, alles zuvor südliche einfach auszuschalten, sagt er. „Uns hier unten hat man ohnehin immer nur als kufr, als Ungläubige, angesehen, und so mancher im Norden war der Ansicht, unsere Frauen hier im Süden seien Freiwild.“

Tatsächlich herrscht schon im Straßenbild ein gewaltiger Unterschied zwischen Sanaa – der heutigen gesamtjemenitischen Hauptstadt und ehemaligen Kapitale des Nordens – und Aden – der früheren Hauptstadt des Südens. In Sanaa mit seiner traditionsreichen Kulisse sieht man kaum eine Frau, die nicht vollkommen verschleiert durch die Straßen geht. Aden wirkt dagegen wie eine Mischung aus britischem Kolonialstil und Ostberliner Plattenbauweise mit einer jemenitischen Note. Hier binden sich die Frauen allenfalls ein Kopftuch um, unter dem oft lässig die Haare hervorschauen. Selbst in Cafés, in Sanaa Bastionen der Männergesellschaft, sieht man in Aden Frauen. „Vor fünf Jahren“, sagt Philosophie-Professorin Al- Manqusch, „hat hier außer den Alten kaum eine Frau ein Kopftuch getragen.“ Das sei erst mit der Einheit gekommen.

Am deutlichsten ist der Unterschied in der Arbeitswelt. Selbst in einer so klassisch männlichen Arbeitsdomäne wie bei den Richtern, Staats- und Rechtsanwälten arbeiten viele Frauen. Sie bilden mit ihren liberalen Kollegen das Kernstück des südlichen Widerstands gegen das neue Gesetz. Im traditionellen islamischen Recht hat der Kadi große Freiräume. So versuchen die Adener RichterInnen, das neue Gesetz zu umgehen. Besonders in der Wohnungsfrage bemühen sie sich, den Frauen zu helfen. Dabei kommt ihnen zugute, daß sich Wohnungen in Aden im Gegensatz zu Sanaa bislang kaum in Privatbesitz befinden. „Da wird der Frau oft einfach die staatliche Wohnung zugesprochen“, erzählt Ruqay Ali Muhammed. Manchmal setzen Richter den Unterhalt für die Kinder so hoch an, daß dabei leicht wieder eine Wohnung für die Frau herausspringt.

Das Beispiel der Richterinnen wird in Sanaa kaum Schule machen. Als eine Adener Richterin unlängst mit ihrem Mann nach Sanaa zog, um dort zu arbeiten, kam es zu Protesten vor dem Gerichtssaal. „Wir wollen keine Frau als Richter“, rief man ihr entgegen, während ihr der Einlaß in den Saal verwehrt wurde. Nun arbeitet sie als Beamtin in einer Abteilung des Justizministeriums in Sanaa.

Der Optimismus der heute fünfzigjährigen Sozialistin Ruqay Ali Muhammed bleibt dennoch ungebrochen. „Es ist schwierig, eine Gesellschaft von Stämmen und Scheichs zu verändern“, sagt sie. Und doch sieht sie positive Entwicklungen. Das erste Mal in der jemenitischen Geschichte wurden bei den Wahlen im vergangenen April Kandidatinnen nominiert. Zwei von ihnen sitzen heute im Parlament. Weitaus düsterer blickt die dreißigjährige Philosophieprofessorin Al-Manqusch in die Zukunft: „Es wäre schön, wenn wir einen Schritt vor und nur zwei zurück machten. Heute treten wir allerdings zwanzig Schritte zurück, ohne einen vorwärts zu gehen.“