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Die Ukraine auf dem Weg nach Lateinamerika

Die Abnabelung von Rußland fällt der Ukraine nicht leicht. Während die Regierung aus lauter Kompromißsucht auf der Stelle tritt, sagt sich die politikmüde Bevölkerung zunehmend vom offiziellen Wirtschaftsleben los  ■ Aus Kiew Klaus-Helge Donath

Zwischen Abbruchflächen, notdürftig geflickten Fensterhöhlen und frisch renovierten Häusern versteckt sich in Kiew eine winzige Kostbarkeit: Das „Museum einer Straße“. Es erzählt die Geschichte des „Andrejewskij Spusk“, des „Andreas-Steigs“, der sich von Kiews alter Unterstadt Podol den Hügel zur Kathedrale des Heiligen Wladimir hinaufwindet. Von hieraus läßt sich das Dnjeprtal gut überblicken. Im Flußhafen herrscht Ruhe. Eine unerklärliche Lautlosigkeit, selbst dort, wo der Verkehr einer Millionenstadt lärmt.

Doch am Hang des Andrejewskij zieht langsam wieder die Gastronomie ein. So, wie es vor der Revolution war. Kleine Restaurants, Imbißstuben und ein Theater mit ukrainischem Spielplan haben sich niedergelassen. Daneben entstehen Holzhäuser aus der Zeit vor der Jahrhundertwende. Fliegende Kunst-, Ramsch- und Antiquitätenhändler nahmen das Areal bereits inoffiziell in Besitz – nicht mehr lange und der Spusk ist Kiews touristisches Vergnügungszentrum. Diesmal vielleicht unwiderruflich.

1870 versuchte Andrej Murawjow, russischer Historiker und Poet, mit Hilfe „guter Beziehungen“ die „öffentlichen Häuser“ vom Andrejewskij zu verbannen. Eine Feuersbrunst kam dem Moralisten zu Hilfe. Bei Murajow ging Fjodor Tjutschew ein und aus, der russische Symbolist, dem wir jene hilfreiche Sentenz zu verdanken haben, daß Rußland mit dem Verstande nicht zu begreifen sei. Auch ein Herr namens Suwenko, ein Wortführer der großrussischen Idee, gehörte zu Murajows Gästen. Gegenüber verfaßte ein gewisser Schitezkij 1888 ein Wörterbuch der „kleinrussischen“ Sprache, wie die Russen das Ukrainische nannten – das Pejorativum schrieb den Subordinationsanspruch fest.

Berühmtester Anrainer war zweifelsohne der Satiriker Michail Bulgakow, halbgelittener Begründer jener sowjetischen Kunst des noch Sagbaren. Generationen von Sowjetbürgern verschlangen seinen Roman „Der Meister und Margarita“. Der Andrejewski Spusk dokumentiert das Ineinander von Ukrainischem und Russischem. Gemeinsamkeit bis zur Unkenntlichkeit eines Unterschieds.

Suche nach Identität

Die Ukraine tut sich schwer, ihren Status und ihre Identität zu bestimmen. Die Erkenntnis, die eigene Kultur vernachlässigt zu haben, wirkt um so demütigender, wie sie sich nicht allein mit offener Repression erklären läßt. Noch 1988 gaben lediglich 16 Prozent der Eltern von Schulanfängern an, zu Hause in ihrer Muttersprache zu sprechen. Die schroffe Abkehr von Moskau und die schrillen nationalistischen Töne seit der Auflösung der Sowjetunion und der 1991 erfolgten Unabhängigkeit haben auch hier ihre Wurzeln. Die politische Klasse in Kiew ringt um die Selbstbehauptung gegenüber dem übermächtigen rusisschen Nachbarn. Die Energien gehen restlos in den Aufbau eines souveränen Staates – mit allen dazugehörigen Accessoires –, um die Entwicklung unumkehrbar zu machen.

Zu leiden hat die Wirtschaft, die am Rande des Kollapses steht. Ökonomische Reformen kamen bisher nur auf dem Papier voran. Innenpolitisch kreierte Präsident Krawtschuks Eigensinn gegenüber Moskau einen seltsamen Mutanten: Der Staatschef gewann die Unterstützung weiter Teile der Nationalisten und konnte gleichzeitig an der kommunistischen Nomenklatura festhalten.

Dieses Tandem blockierte auch die Denuklearisierung der Ukraine. Nach langem Zögern ratifizierte das Parlament erst letzte Woche den Start-I-Vertrag. Der Atomwaffensperrvertrag von Lissabon hat dagegen kaum Aussichten, von der drittgrößten Atommacht der Welt unterzeichnet zu werden. Wjatscheslaw Tschornovil, Vorsitzender der nationalistischen Opposition „Ruch“, gibt unumwunden zu: „Wir sind für Start-I, aber gegen Lissabon. Die Atomwaffen der Ukraine sollen auf ukrainischem Boden demontiert werden, nicht in Rußland.“ Parlamentspräsident Ivan Pljuschtsch wird konkreter. Drei Milliarden Dollar Abrüstungshilfe verlangt er vom Westen. Die von den USA angebotenen 175 Millionen nehmen sich dagegen lächerlich aus. Tschornovil ist potentieller Präsidentschaftskandidat: „Wenn die Welt an einer atomwaffenfreien Ukraine interessiert ist, soll sie uns helfen.“ Die Ukraine besitzt ein Faustpfand.

Mit oder ohne Moskau?

So hat die Angst vor Rußland laut Umfragen abgenommen. Die Hälfte aller Ukrainer wünscht ein nachbarschaftliches Verhältnis mit offenen Grenzen. Sogar in der erst von Stalin dem Land zugeschlagenen Westukraine mäßigte sich die breite nationalistische Bewegung. Am rechten Rand spaltete sich dafür eine offen faschistische und paramilitärische Minderheit ab.

Etwa ein Viertel der Bevölkerung baute auf die Wiedererrichtung des alten Systems und enge Verknüpfung mit Moskau. Nach der Niederlage der Reaktion in Rußland im Oktober wurde es um diese Kräfte etwas ruhiger. Eine Allianz mit Jelzins Reformrußland, meint der Kiewer Soziologie Professor Walerij Chmelko, fürchtet man eher.

Der russischsprachige Osten und Süden des Landes widersetzt sich traditionell Ukrainisierungstendenzen. Nationalistische Parteien, auch Ruch, führen hier nur ein Schattendasein. Die Mehrzahl der elf Millionen Russen der Ukraine lebt hier. Die Administration im Donezker Kohlerevier und in Lugansk stimmte sogar für regionale Autonomie. Allerdings im Rahmen einer ukrainischen Föderation. Denn noch hängt die zum Großteil überaltete Industrie am Subventionstropf der Zentrale.

Der Süd-Ost-Faktor gewinnt zunehmend an Bedeutung: Kiew wird herausgefordert. Präsident Krawtschuk versuchte, eine Brücke in den Osten zu schlagen, indem er Minister aus der lokalen Elite ernannte – einen ehemaligen Gruben- und einen Fabrikdirektor. Die alten Industriebosse üben starken Einfluß aus, besonders im Donezkbecken, wo Direktoren und Arbeiter an einem Strang ziehen, um Kiew ökonomische Zugeständnisse abzuringen.

Die politische Organisation der „roten Direktoren“, die „Partei der Arbeit,“ verfügt nach Umfragen mit etwa 15 Prozent über den größten Zuspruch. Radikale marktwirtschaftliche Reformen lehnt sie ab. Bisher wurde sie in diesem Bereich nicht gefordert, denn Reformen liefen nirgends an. Linksgruppierungen entstanden dagegen eine ganze Reihe – bis dato allerdings ohne nennenswerten Organisationsgrad. Sollte Kiew eines Tages keine unbegrenzten Kredite mehr verteilen, werden die russischen Bergarbeiter vom Donbass das nicht ohne weiteres hinnehmen.

Die russische Karte läßt sich in der Ukraine zu jeder Zeit reizen. Aber den Gegensatz zwischen Zentrum und Osten allein auf die nationale Frage zu verkürzen, würde die Problematik verfälschen. Im Unabhängigkeitsreferendum Dezember 1991 stimmten selbst die russifizierten Gebiete Donezk, Dnepropetrowsk, Saporoschje und Charkow mit über 80 Prozent zugunsten der ukrainischen Souveränität. Ein Vertrauensvorschuß war also vorhanden. Am erfolgreichsten hat sich die überkommene Wirtschaftselite gegen die Veränderungen gewehrt. Nach zwei Jahren Selbständigkeit kann das Land nun eine überzeugende Bilanz präsentieren: Es schlängelt am Rand des Staatsbankrotts. Die Währung, der Karbowanez oder Koupon, ursprünglich als Zahlungsmittel für eine Übergangszeit gedacht, wird gegen den Rubel mit 1:20 gehandelt – Anfang 1992 war er zum rapide sinkenden Rubel mit 1:1 eingeführt worden. Die Inflation beträgt monatlich 50 Prozent. In den staatlichen Läden gähnen leere Regale. Man fühlt sich zurückversetzt in Sowjetzeiten, als drei Verkäuferinnen den Absatz von hundert unverkäuflichen Ladenhütern zu organisieren hatten. Vor den Brot- und Milchgeschäften bilden sich sogar wieder Schlangen. Ein Kostüm im Staatsladen auf Kiews Boulevard kostet 400.000 Koupons (30 DM) – im Oktober viereinhalb durchschnittliche Monatslöhne. Auf dem Bessarabischen Markt sind die Preise noch exorbitanter: Ein Kilo Schwein geht für 25.000 weg, für ein Kilo Weintrauben muß man sage und schreibe 60.000 berappen. Das produzierte Nationaleinkommen sank dieses Jahr gegenüber 1992 um zwölf Prozent, die Konsumgüter- und Lebensmittelproduktion um 19 Prozent. Natürlich lagen die 1992er Werte schon erheblich unter denen des Vorjahres und die waren bereits schlechter als 1990. Soziologe Chmelkow hat dafür eine überraschende Erklärung: Fälschten in der Sowjetära die Betriebe ihre Poduktionsziffern nach oben, geben sie jetzt niedrigere Zahlen an. Den damit wegdefinierten „Überschuß“ verkaufen sie direkt. Insgesamt, mutmaßt Chmelkow, werden 46 Prozent der Produktion am Auge des Staates vorbei auf den Markt lanciert. Das Ergebnis ist paradox: Die Regierung verschließt sich – anders als in Rußland, das im Vergleich zum Nachbarn bereits floriert – Reformen und Privatisierung; durch den ungeheuren schwarzen Markt fördert sie andererseits Privatisierung auf leisen Sohlen, was mit weit größeren sozialen Härten verbunden ist. Nach jüngsten soziologischen Erhebungen, meint der Logiker Panjoto von der Kiewer Uni, leben ein Drittel der Kiewer „sehr schlecht“, ein Viertel „katastrophal“, ein weiteres Drittel einfach „miserabel“, während fünf Prozent in unvorstellbarem Reichtum schwelgen.

Modell Kolumbien?

Zur Zeit bereitet sich gerade eine Gruppe Wissenschaftler auf eine Reise nach Kolumbien vor. Dort will man die Erfahrungen mit der Schattenökonomie studieren. „Denn die Kriminalisierung der Wirtschaft“, sagt Chmelkow, „läuft auf eine lateinamerikanische Variante hinaus, aus deren Kreislauf es sich später schwer aussteigen läßt.“ Regierung und Präsident verschließen die Augen, Hyperinflation scheint sie nicht zu beunruhigen. Statt zu privatisieren, dulden sie stillschweigend die prichwatisazija, – das „Mitnehmen“ – ulkt Chmelkow. Privatiserung vollzieht sich nur auf kriminellem Weg. Bis zu den Wahlen am 27. März wird sich daran nicht viel ändern. Die Notenpresse übernimmt das Denken.

Im Feinkostladen in Podol lehnt die Verkäuferin lässig über der Theke. Sie verkauft Fertiggerichte, Rouladen, allerlei Salate und Borschtsch, der 14.000 Koupons kostet. Von ihrem letzten Gehalt konnte sie sich sechseinhalb Kilo des traditionellen Gerichts leisten. Ist sie unzufrieden? Drei Abteilungen des gutgehenden Geschäfts wurden ohne viel Aufhebens zugemacht. Warum, weiß sie nicht genau, sie ahnt es nur: Privatisierung „von oben“, unter der Hand – die alten Apparatschiks lassen es sich gut gehen. Sie meckert – aber mehr auch nicht.

„Hauptsächlich Rentner und Kinder leiden, und die gehen nicht auf die Straße“, meint ein Hochrangiger aus dem Wirtschaftsministerium, der nicht genannt werden möchte. In der Tat erwägt kaum jemand aus der politischen Elite ernstlich die Möglichkeit sozialen Aufruhrs. Die Menschen arrangieren sich – irgendwie. Immer wieder hört man: „Wir Ukrainer sind geduldig und nicht so impulsiv wie die Russen. Wenn es aber mal losgeht, kennen wir kein Erbarmen.“

Womöglich ist da was dran. Mehr Erklärungskraft hingegen besitzt der simple Umstand, daß die Ukraine ein Agrarland ist; die meisten Städter bestellen ihr eigenes Stückchen Land oder haben Verwandte auf dem Dorf. „Die herkömmlichen Versorgungswege zwischen Stadt und Land funktionieren nicht mehr“, erklärt Panjoto. Die Bevölkerung versorgt sich selbst, unabhängig vom Staat, wobei Geld immer unwichtiger wird. Flüchteten früher Jugendliche aus dem Dorf in die Stadt, läßt sich heute ein gegenläufiger Trend feststellen.

Die Hälfte der Stadtbevölkerung war mit der relativ hochqualifizierten Militärproduktion verknüpft. Jetzt werden ihre Güter nicht mehr gebraucht. Die Schere zwischen Expertentum und Landbevölkerung erweitert sich so wie in einem „unterentwickelten Land“, meint Panjoto. Darin liegen nicht nur Nachteile. Die Rüstungsindustrie verpulverte ungeheure Mengen Energie.

Energie ist der wunde Punkt der Ukraine. Bei Gas und Öl hängt sie gänzlich von Rußland ab. Dieses Jahr stehen ihr 31 Millionen Tonnen Öl zur Verfügung, bei einem vorgesehenen Verbrauch von 43 Millionen. Sparmaßnahmen sollen das Defizit auffangen, und natürlich werden die Aufhebung des AKW-Baustopps und fortlaufende Betreibung Tschernobyls mit dem Engpaß begründet. Auf keinen Fall will man sich weiter in die Abhängigkeit Moskaus begeben und erpreßbar werden. Rußland fordert zwei Milliarden Dollar für schon geleistete Öl-und Gaslieferungen. Periodisch droht es, die Hähne zuzudrehen. Als sich im September Krawtschuk und Jelzin auf der Krim trafen, um die leidige Frage der Schwarzmeerflotte zu klären, schien sich eine Lösung anzubahnen: Die Ukraine verzichtet auf die Flotte gegen Schuldenerlaß. Ganz besonders in der nationalistischeren Westukraine erhob sich daraufhin ein Proteststurm, aus dem Handel wurde nichts: „Mit vier oder fünf U-Booten könnten wir die Schulden begleichen“, schüttelt der Ministeriale den Kopf. „Wozu brauchen wir diese Flotte? Die Ukraine ist keine Seemacht. Unsere Nationalisten begreifen das nicht.“ Das Verhältnis zwischen Moskau und Kiew wird noch auf Jahre von Haßliebe geprägt sein.

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