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Annie get your gun

Wie die amerikanische Waffenlobby nach einem neuen Absatzmarkt suchte – und den Feminismus entdeckte  ■ Von Andrea Böhm

Jane Ferguson sieht nicht so aus, als ob der blanke Enthusiasmus sie hierhergetrieben hätte. Das Gesicht verkniffen, die Schultern hochgezogen, die ausgestreckten Arme ein wenig zitterig. „Ganz sanft abdrücken“, mahnt die Stimme des Trainers im Hintergrund. Doch je näher der Zeigefinger den Abzug heranzieht, desto tiefer scheint ihr Kopf zwischen den Schultern zu versinken. Dann knallt es, der Rückstoß reißt beide Arme nach rechts weg – und für einen Sekundenbruchteil ist nicht klar, wer hier wen kontrolliert: Jane Ferguson ihren Revolver, oder der Revolver Jane Ferguson. Nach sechs Schuß pult Dan Harvey, der Trainer, seine Lärmschutzstöpsel aus den Ohren, holt die zerlöcherte Zielscheibe, ein weißes Blatt Papier, heran, heftet sie sich vor den Oberkörper und brummelt Tröstliches. „Zweimal in die rechte Brust, einmal in die Magengegend, zweimal in die Schulter, eine Kugel danebengejagt. Macht aber nichts. Der Kerl wäre erledigt.“

Der „Kerl“ ist der imaginäre, aber omnipräsente Einbrecher, Vergewaltiger, Entführer, Autoknacker, Drogendealer oder Gangleader. Jane, eine schüchtern wirkende Endvierzigerin in Jeans und Micky-Mouse-Pulli, macht immer noch kein fröhliches Gesicht. „Ich könnte überhaupt niemanden erschießen.“ Davon redet, strenggenommen, auch niemand. Im Jargon der Ausbilder gibt es nur targets, zu deutsch: Ziele. Shooting targets, hunting targets und self- defense targets. Mit dem ersten sind Tontauben und Zielscheiben gemeint, mit dem zweiten Hirsche und Rehe, der dritte Begriff ist eine galante Umschreibung für Menschen. Jane Fergusons Hemmung, auf self-defense targets zu zielen, gilt allgemein als Anfängerproblem. Das sollte sich im Verlauf dieses Wochenendes ändern: Jane Ferguson nimmt an einem Home Firearm Safety-Kurs der „National Rifle Association“ (NRA), des mächtigen Interessenverbands der amerikanischen WaffenbesitzerInnen, teil. Gelehrt werden soll der sichere Umgang mit Revolver, Pistole oder Gewehr – Gegenstände, die in jedem zweiten amerikanischen Haushalt zu finden sind.

Janes Nachbarin am Schießstand des „Izaak Walton“-Clubs in Centreville, Virginia, hat von Anfang an ein entspannteres Verhältnis zu Waffen gehabt. Fran Seymour hat gerade mit ihrer halbautomatischen „Ruger 22/45“ ein Dutzend Kugeln im Umkreis von wenigen Zentimetern auf der Zielscheibe plaziert, was dem Trainer eine anerkennende Bemerkung über die weibliche Zielsicherheit entlockt. Fran Seymour, die vor vier Monaten zum ersten Mal eine Waffe in der Hand hielt, nennt inzwischen zwei Pistolen und ein Jagdgewehr ihr eigen und hat auch schon das Maschinengewehr ihres Schwagers ausprobiert. „Interessantes Gefühl. Hochinteressantes Gefühl.“ Was sie machen würde, sollte sie mit einem Einbrecher oder einem Angreifer konfrontiert werden, ist völlig klar. „Draufhalten und abdrücken.“

Jane Ferguson und Fran Seymour sind unterschiedliche Prototypen eines Massentrends. Dem Trend voran geht die Avantgarde. Zu der gehörte – zumindest nach Auffassung der Zeitschrift Women & Guns – bereits Eleanor Roosevelt, Präsidentengattin zwischen 1933 und 1945, Dozentin und Frauenrechtlerin. „Niemand“, schrieb sie einst, „kann Dir das Gefühl der Minderwertigkeit geben, wenn Du es nicht zuläßt.“ Und weil Eleanor Roosevelt in ihrer Handtasche einen Revolver getragen haben soll, deklarierte Women & Guns diesen Ausspruch zum Appell an die Geschlechtsgenossinnen, es der ehemaligen First Lady gleichzutun. Wieder ein Slogan, mit dem man die neue Zielgruppe der Waffenindustrie rekrutieren kann: Frauen.

Der Zeitpunkt scheint auf den ersten Blick schlecht gewählt. In den USA ist eine der seltenen Phasen eingetreten, in denen schärfere Waffengesetze nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Kongreß eine Mehrheit finden. Über 200 Millionen Revolver, Pistolen, Jagdgewehre, Schnellfeuergewehre und Maschinengewehre sind zwischen San Francisco und New York, Seattle und Miami in Umlauf. 22.000 Menschen wurden 1992 in den USA ermordet, über 16.000 von ihnen erschossen. Weitere 230.000 trugen im letzten Jahr zum Teil lebensgefährliche Schußverletzungen davon. Schlagzeilen machen Drive-By-Shootings in Großstadtghettos, bei denen Gangmitglieder aus dem fahrenden Auto das Feuer auf verfeindete Gruppen eröffnen – und häufig alle niedermähen, die in der Nähe stehen. Schlagzeilen machen tödliche Raubüberfälle auf ausländische Touristen in Florida. Schlagzeilen machen vor allem Morde an Tatorten, wo sie nach dem festen Glauben der Amerikaner an die unbegrenzten Ausweichmöglichkeiten des Landes gar nicht stattfinden dürften: in den sauberen, sicheren Suburbs. Das Land verzweifelt an seiner eigenen Gewaltbereitschaft. Genau darin liegt die Chance der NRA.

„Frauen haben unzählige Aufgaben übernommen, die einst für Männer reserviert waren“, heißt es in einer neuen Werbebroschüre. Ein paar Zeilen weiter: „Laut Statistik des Justizministeriums werden 36 Prozent aller Frauen in ihrem Leben Opfer einer Gewalttat.“ Wer sich aus der Sicherheit von Heim und Herd herauswagt, so die Logik, begibt sich in Gefahr. Und wer sich in Gefahr begibt, sollte sich bewaffnen. Nach Angaben des Gallup-Instituts besitzen inzwischen über zwölf Millionen Frauen eine Schußwaffe. In der NRA, mit über drei Millionen Mitgliedern und einem Jahresbudget von rund 80 Millionen Dollar eine der einflußreichsten Lobbygruppen der USA, hat sich inzwischen ein „Women's Policies Committee“ und ein „Office of Women's Issues and Information“ etabliert.

Die Feminisierung der Waffenlobby ist weniger dem unaufhaltsamen Fortschritt der Gleichberechtigung als vielmehr marktökonomischen Überlegungen geschuldet. Auch wenn Sprecher der Lobbygruppe dies leugnen: in erster Linie vertritt die NRA in ihrem sechsstöckigen Hauptquartier in Washington die Interessen amerikanischer Waffenproduzenten wie Smith & Wesson, Browning, S.W.D. Inc. oder Intratec – ein Industriezweig, der nach Angaben des „Violence Policy Center“, eines unabhängigen Research-Instituts, 1990 über 1,8 Millionen Handfeuerwaffen, 1,1 Millionen Gewehre, 533.000 Schrotflinten auf den Markt brachte. Zusätzlich wurden rund eine Million Schußwaffen aus dem Ausland importiert.

Waffen sind in den USA bekanntermaßen leicht erhältlich – daran wird auch die nun vom Kongreß verabschiedete fünftägige Wartefrist für potentielle Käufer nichts ändern. Wer in den Handel einsteigen will, muß 30 Dollar bei dem „Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms“ (ATF), einzahlen. Nach einer kurzen Routineüberprüfung schickt die Bundesbehörde die Lizenz per Post. Diese Praxis mag erklären, warum es in den USA mehr Waffenhändler als Tankstellen gibt.

Doch gerade ein solch freier Markt ist gegen Übersättigung nicht gefeit. Anfang der achtziger Jahre rutschten die Verkaufszahlen in den Keller. Die Hauptzielgruppe, weiße Männer in den Vorstädten, hatte sich mit Schußwaffen eingedeckt. Es dauerte nicht lange, und in den bis dahin vor Machismo strotzenden Waffenmagazinen tauchten Frauen auf. „Unsere Revolver kann man in die Spülmaschine stecken“, lautete ein Werbeslogan.

Längst kalkulieren Waffenproduzenten Frauen bei ihren Marktprognosen fest ein. Es gibt speziell entworfene Waffen wie das Modell „Lady Smith“ von Smith & Wesson. Die Firma Lorcin bietet mit dem Slogan „Little Ladies That Get The Job Done“ drei kleine Pistolentypen mit rosa Perlmuttgriff an. Die Lederwarenbranche hat Handtaschen mit Waffenversteck entworfen, und Designerinnen bringen Blazer, Kostüme, Hosen und Kleider für die moderne Frau mit Revolver auf den Markt. Die Fachzeitschrift, Women & Guns, vor fünf Jahren noch ein achtseitiger Rundbrief für ein paar hundert Interessentinnen, hat inzwischen eine Auflage von 25.000.

Die Rekrutierung der weiblichen Klientel beginnt nicht am Schießstand, sondern häufig in einer vergleichsweise geräuscharmen Umgebung. In der Konferenzsuite des „Capital Hilton“ in Washington sind nur das Summen der Klimaanlage und die nasale Stimme von Gail Fox zu hören, einer Mittvierzigerin in Business-Kostüm, perfektem Make-up und perfekt eintrainiertem Lächeln, das an eine automatische Schiebetür erinnert. In den folgenden drei Stunden wird sie zwölf Frauen erklären, wie mit der statistischen Erkenntnis umzugehen ist, daß jede Dritte von ihnen Opfer eines Gewaltverbrechens sein wird.

„Refuse To Be A Victim“ lautet der Titel dieses Selbsthilfeseminars der NRA – ausschließlich für Frauen. Unter dem gleichen Motto hatte die NRA zuvor in drei „Testregionen“ – Houston, Miami und Washington – in Unterhaltungsmagazinen und konventionellen Frauenzeitschriften vierfarbige Anzeigen geschaltet. Abgebildet ist eine angstvoll dreinblickende weiße Frau, die, ihre Tochter an sich gepreßt, durch eine Tiefgarage huscht. Unter anderem haben mittlerweile 25 weibliche Kongreßabgeordnete gegen die Anzeigenkampagne protestiert. Sie sei, so die Abgeordnete Nita Lowey aus New York, nichts weiter „als der verschleierte Versuch der NRA, mehr Mitglieder und Waffenbesitzer zu rekrutieren, indem sie die berechtigte Angst der Frauen vor Gewalt ausbeutet“. Die NRA ficht das ebensowenig an wie eine Studie, die Anfang Oktober im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde: Wer zu Hause eine Schußwaffe aufbewahrt, geht ein erhöhtes Risiko ein, selbst erschossen zu werden – nicht von einem Eindringling, sondern von Freunden oder Familienmitgliedern, die im Streit zur Waffe greifen.

Ausschließlich weiße Frauen haben sich an diesem Abend im „Capitol Hilton“ eingefunden; die meisten sind aus den reicheren Vororten für diesen Abend in die Stadt gekommen. Als Aufwärmübung fragt Fox zuerst nach dem „typischen Bild eines Kriminellen“. In der zweiten Reihe erhebt sich zögernd eine Hand. „Ich will ja nicht rassistisch klingen“, sagt die Teilnehmerin. „Aber der typische Kriminelle ist für mich schwarz und männlich.“ Kollektives Nicken. Nur aus der dritten Reihe kommt Einspruch: „Die meisten Serienkiller sind weiß.“

Die nun folgenden Ratschläge zum Schutz vor weißen Serienkillern im speziellen und schwarzen Männern im allgemeinen erinnern eher an eine Produktmesse als an einen Selbsthilfekurs. Sicherheitsschlösser für Fenster und die Schlafzimmertür werden empfohlen, denn, so Fox, „im Schlaf sind wir am wehrlosesten“. Zeituhren, die auch in Abwesenheit der Hausbewohnerin automatisch das Wohzimmerlicht einschalten, gehören längst zum Standard. Neu sind Türspione mit Teleobjektiv, Alarmanlagen, die durch körperliche Bewegungen ausgelöst werden können, oder der panic button – ein Alarmknopf neben dem Bett, der betätigt wird, wenn der Eindringling die Hausanlage außer Gefecht gesetzt hat. Für den Schutz auf der Straße empfiehlt Fox den personal alarm, eine batteriebetriebene Alarmanlage, die frau in der Handtasche oder am Körper trägt. Am Ende wird sogar die Gartenarbeit zur Selbstverteidigung. „Pflanzen Sie nur dorniges Gebüsch an“, rät Fox, „damit sich niemand darin verstecken kann.“

Drei Stunden lang schreiben die Teilnehmerinnen eifrig mit. Apartment, Garten, Auto und der eigene Körper verwandeln sich vor dem geistigen Auge in kleine, aber teure Festungen. In der Pause werden Horrorgeschichten ausgetauscht – von Autodieben, die unter dem Fahrzeug lauern und die Achillessehnen des Opfers durchschneiden; von Jugendlichen, die angeblich bei Dunkelheit ohne Licht Auto fahren und aus Jux alle unter Beschuß nehmen, die ihnen Licht- oder Hupsignale geben; und von den Hütern und Beschützern, die sich als Täter entpuppen: Polizisten und Wachschutzbeamte, die erst die Sicherheitsvorkehrungen ausspähen und dann selbst einbrechen. „Man kann keinem mehr trauen, man kann zu niemandem mehr freundlich sein“, resümiert eine Teilnehmerin.

Dieser Fatalismus ist durchaus im Sinne der Erfinder, in diesem Fall der NRA. Wenn die Kursteilnehmerinnen zu dem Schluß kommen, daß auch die ausgefeilteste Sicherheitstechnologie die direkte Konfrontation mit dem Angreifer nicht verhindern kann, dann bleibt immer noch eine Option. „Die NRA“, beteuert Gail Fox noch einmal mit einem ruckartigen Lächeln, „ermutigt niemanden, eine Schußwaffe zu kaufen.“ Am Seminarende händigt sie Telefonnummern aus, unter der frau sich beim „Izaak Walton“-Club und anderswo anmelden kann.

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