Jedem sein Tempo bis zum Ende -betr.: "Die Geige geblasen...", taz vom 8.11.93, Leserbrief "Musizieren lernen", taz vom 20.11.93

Offensichtlich ist es notwendig, erst einmal einige Grundinformationen zu Cornelius Cardews „Treatise“ nachzuliefern, die sowohl dem Herrn Kritiker als auch Frau Linke im Eifer des Gefechts entgangen zu sein scheinen. Cardew hat diese graphische Partitur keineswegs als ein Vehikel konzipiert, um den Interpreten die Möglichkeit zu geben, Virtuosität vorzuführen. Es ist im Gegenteil so, daß sich eine gelungene „Aufführung“ des Stückes gerade durch eine gewisse Simplizität des von den Musikern eingebrachten Materials auszeichnen kann. Die möglichen Reize des Stückes liegen da eher auf anderen Aspekten. (Wodurch natürlich auch gewisse Erwartungshaltungen enttäuscht werden können.) Daß Frau Linke dieses nun als „Dilettantismus“ der Musiker interpretiert, muß man ihr wohl nachsehen. Vielleicht hätte eine noch ausführlichere Einführung in die Grundgedanken von „Treatise“ geholfen, solche Mißverständnisse seitens der Zuhörer zu vermeiden. Von einem Kritiker sollte man allerdings erwarten könen, daß er sich zumindest rudimentär über das informiert, was er da bespricht. So schien Herrn Knipphals z.B. die ganz grundlegende Information zu fehlen, daß jeder Musiker die Partitur in seinem eigenen Tempo spielte, und zwar naheliegenderweise auch bis zum Ende! Das führt zwangsläufig dazu, daß jeder zu einem anderen Zeitpunkt zum Schluß kommt. Herr Knipphals hingegen war der Meinung, „...daß selbst die Zeit, sich auf die Partitur einzulassen, allein dem Gewissen der Musiker überlassen war. Vor jedem Spieler stand ein Licht. Das schalteten sie aus, wenn sie sich genug eingelassen hatten.“ Solch salopp-polemische Formulierungen sollte man sich eigentlich nur auf der Basis einer zumindest sachlich korrekten Kritik leisten...

burkhard beins (mitglied des ensemble transtonal bei der aufführung von „treatise“)