Verschnürungen gegen Rote Fäden

■ Premiere von Wim Vandekeybus' Stück „Her Body Doesn't Fit Her Soul“ auf Kampnagel

Es gibt keine Sicherheit - weder im richtigen Leben noch in der Kunstwelt des belgischen Choreographen Wim Vandekeybus. Seine Bilder folgen einer unbegreiflichen Logik, menschliche Katastrophen und Ausbrüche blanker Gewalt scheinen jederzeit möglich. Auf bloße Wahrnehmung sollte sich hier niemand verlassen, denn jede Szene gehorcht einer anderen Wahrheit, jede Geste ändert im Kontext der Bilder ihre Bedeutung. Ein Klima ständiger Ungewißheit herrscht.

Wie schon in der Choreographie Immer das Selbe gelogen, vor eineinhalb Jahren ebenfalls auf Kampnagel zu Gast, knüpft der junge Belgier ein Patchwork aus Tanz und Theater, aus Filmsequenzen und Textzitaten. Eingestimmt wird das Publikum mit dem Kurzfilm „Elba und Federico“, den Vandekeybus mit einer Gruppe von Blinden in Mexiko gedreht hat. Lächelnd wie in Trance tasten sich die Blinden zu Anfang in einen Versammlungsraum, in dem offenbar ein Fest stattfinden soll. Ein harter Schnitt unterbricht die Handlung: eine Handkamera folgt einem Ehepaar, das zwar im selben Bett schläft (sie nachts, er am Tag), aber immer nur in kurzen, fast panikartigen Gefühlsaufwallungen aneinandergerät.

Explosionsartige Körperattacken und panische Fluchtbewegungen sind typisch für diesen Abend, und doch exekutiert die Vandekeybus-Truppe Ultima Vez nicht nur das vertraute Repertoire von Schleuderbewegungen, Sprüngen und knochenharten Stürzen. Sämtliche Tanzeinlagen sind eingebunden in ein äußerst disparates Geflecht unterschiedlicher Darstellungsformen. Ganz behutsam läßt Vandekeybus seine Choreographie anlaufen: Immer wieder reiben sich die Tänzerinnen an einem quer gespannten Hanfseil, wobei Körpermikrofone unangenehme Kratzgeräusche erzeugen. Vor der Bühnenwand aus senkrecht gespannten Schnüren hängen vier Tänzer, wie Larven verschnürt, die im Lauf des Vorspiels losgeschnitten werden.

Überall Schnüre, doch einen roten Faden sucht man vergeblich. Vandekeybus treibt ein vieldeutiges Spiel mit der Wirklichkeit, verknüpft Komisches mit Bedrohlichem und schreckt auch nicht vor langen Textpassagen zurück. Auf dem Rücken eines Tänzers tastet sich die blinde Machtelt Philips an einem Band mit Blindenschrift entlang und liest einen poetischen Text, während der „Ehemann“ Farbwahrnehmungen beschreibt. Dazwischen immer wieder Bilder emotionaler Extremzustände.

Vor allem im ersten Teil wirken die Pausen manchmal arg überdehnt, so daß der Rhythmus der Bilder nur schleppend in Gang kommt. Doch zum Ende hin stimmt die Dynamik: Angetrieben von Peter Vermeersch Jazz-Kapriolen kommt die heterogene Szenenfolge richtig in Schwung. Dann ist plötzlich Schluß: Mit Feuerzeugen stehen die zehn Tänzer an der Rampe und zertrennen das Hanfseil. Der Faden ist endgültig gerissen.

Rolf Suhl