Berlin-West baut wie nie: Investoren wollen dem künftigen Dienstleistungszentrum und Konkurrenten im Büroflächenmarkt in Mitte rechtzeitig Paroli bieten / Stadtplaner Speer: „Was in Berlin passiert, ist ein riesiger Fehler“ Von Rolf Lautenschläger

Berlin droht der Tokio-Effekt

Geht es um profitable Bauvorhaben, bleibt Berlin eine gespaltene Stadt. Auf die Planungen für Büros im alten Zentrum – in der Friedrichstadt oder am Alexanderplatz – antworten Politiker und Investoren aus dem Charlottenburger „Neuen Westen“ mit einem hektischen Bauboom. Der Staub aus der Baugrube für die Friedrichstadtpassagen weckt in der westlichen Stadthälfte egoistische Verlustängste. Man wittert Konkurrenz auf dem engen Büroflächenmarkt und will der künftigen Mitte mit ihren Regierungs- und Dienstleistungsfunktionen rechtzeitig Paroli bieten.

An Steigerungen auf der ganzen Linie wird gedacht. „Für das Zentrum Charlottenburgs darf die Entwicklung im Bereich des Gewerbes und des Verkehrs nicht gebremst werden“, fordert Dietmar Otremba, Bauträger aus Charlottenburg. „Bestimmte Gewerbebetriebe, bestimmte Arten von Dienstleistungen wollen hierher und nur hierher. Will der Bezirk auch weiterhin in der Lage sein, diese Bedürfnisse mit marktkonformen Mitteln zu befriedigen, dann gilt nur ein Mittel: Man muß Bauen ermöglichen.“

„Was im Augenblick in Berlin passiert, ist politisch gesehen ein riesiger Fehler“, erklärt der Frankfurter Stadtplaner Albert Speer. „Alle Flächen im Westteil, die über vier Jahrzehnte brachlagen, werden nun bebaut, ohne daß hier die Entwicklung gelenkt oder dem Osten Priorität gegeben würde.“ Der Osten plant, der Westen boomt, und die Leitbilder der Stadtentwicklung, beispielsweise das „Ringstadt-Konzept“ mit dezentralen Standorten an der S-Bahn, scheinen vergessen. Seit dem Fall der Mauer wurden für den Westteil Berlins rund viermal soviel Büro- und Gewerbeflächen für Bauvorhaben genehmigt wie im Osten.

Den größten Bauboom erlebt Charlottenburg

Charlottenburg erlebt derzeit den wohl stärksten Entwicklungsschub seit der Gründerzeit. Nach dem heutigen Stand werden Bauvorhaben von mehr als 1,1 Millionen Quadratmeter Bruttogeschoßfläche vorbereitet, denen im Osten nur 0,8 Millionen Quadratmeter Bruttogeschoßfläche (BGF) gegenüberstehen. Mittelfristig, schätzt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, wachsen die Büroflächen in Charlottenburg um vier Millionen Quadratmeter BGF auf 10 Millionen Quadratmeter BGF für rund 24.000 neue Arbeitsplätze. Ostberlin dagegen kann seine Wachstumsraten von 2,4 Millionen Quadratmeter BGF auf ganze 6 Millionen Quadratmeter BGF steigern.

Ein „Bedeutungsverlust“ der westlichen City steht nicht bevor – auch dann nicht, wenn Mega-Bauvorhaben den Alexanderplatz im Hochhhausdschungel versinken lassen. Im Gegenteil. Durch die ungleichzeitige Entwicklung wird das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West nicht abgebaut, sondern zugunsten des boomenden Westteils vergrößert. Für Ostberlin aber birgt das Hochpushen der Konkurrenzängste schon jetzt die doppelte Gefahr, Überkapazitäten auf dem Dienstleistungssektor zu produzieren und die Funktion des Wohnens aus der Innenstadt schieben zu lassen. Die Oststadt wird so zur Kulisse für potente Investoren. Stadtverträglich, das ist schon heute klar, geben sich die kolossalen Massierungen von Hochhaustürmen am Alexanderplatz oder die noch zu bauenden Dienstleistungs- und Einkaufsmonolithe am Potsdamer Platz, entlang der Leipziger Straße und am Checkpoint Charlie nicht. Sie zwingen dort das differenzierte Bild der Hauptstadt in die Knie mit unmaßstäblichen Figurationen und konterkarieren jede dezentrale Perspektive.

In Charlottenburg weiß man, daß sich die Bauvorhaben nicht aufhalten lassen. Deshalb fördert man sie, will sie aber lenken: Damit die kleinteilige Physiognomie des Bezirks beim Weiterbau nicht zu sehr Schaden nimmt, wurden 1992 „City-Leitlinien“ formuliert. Die Identität der Gebäude und Blöcke aus dem 19. Jahrhundert und die Reparatur des zerstörten Stadtgrundrisses, der Brüche und Übergangszonen sowie der Erhalt des sozialen Gefüges und die Funktion des Wohnens sollen gewahrt bleiben. „Mit den City-Leitlinien“, sagt Claus Dyckhoff, Charlottenburgs Baustadtrat, „soll die zukünftige Gestaltung der Charlottenburger City als vitaler Lebens- und Wirtschaftraum in einen Rahmen gestellt werden, der einerseits die innovative Kraft zusätzlicher Investitionen in diesem Bereich ökonomisch einsetzt und andererseits die vorhandenen städtebaulichen Potentiale, Qualitäten und Nutzungsverflechtungen sichert.“

Daß Charlottenburg auf dem Dienstleistungssektor nicht Bauen verhindert, sondern „Bauen ermöglicht“ sowohl innerhalb seines historischen Kontextes als auch auf Neubauflächen, begegnet einem an jeder Straßenecke. In der Logik des „boomenden Leitbildes“ wird derzeit das bogenförmige Gebäude der Industrie- und Handelskammer mit 36.000 Quadratmetern BGF an der Fasanenstraße entwickelt. Städtebaulich komponiert sind die Planungen von Hans Kollhoff auf dem Parkplatz Wielandstraße/Leibnizstraße, wo zwei Turmhäuser und langrechteckige Bürobauten 29.000 Quadratmeter BGF Raum bieten sollen. Allerdings drängten die Projektentwickler WIR den Wohnanteil auf ein Viertel der verabredeten Anzahl herunter. Insgesamt erweisen sich die in den City-Leitlinien angepeilten vierzig Prozent Wohnanteil zunehmend als Illusion. Eingepaßt in die historische Architektur werden auch der Neubau von BMW mit 5.500 Quadratmetern BGF, die beiden Geschäftsbauten von Stutzer und Behrend in der Mommsenstraße sowie von Nielbock und Partner an der Kantstraße oder das erweiterte Bürogebäude in der Fraunhoferstraße mit 39.000 Quadratmetern BGF.

Von der Zweitklassigkeit eines Bezirks ist die Rede

Zusätzlich werden in Charlottenburg Flächen ausgewiesen, die schwindeln machen: Im inneren Charlottenburger Spreebogen sowie am Verbindungskanal befinden sich Umstrukturierungsgebiete für Büros und Wohnungen mit über 300.000 Quadratmetern BGF. Gegenüber dem Focus Teleport werden Bürobauten der VW- Gedas mit 10.000 Quadratmetern BGF und die Spreebogen-Plaza für sechsgeschossige Spiegelbauten mit 19.000 Quadratmetern BGF hochgezogen. Ebenso wird im Bereich des Messegeländes und des Messedamms geplant: Oswald Mathias Ungers entwarf ein Konzept zur Erweiterung des Messegeländes um 170.000 Quadratmeter BGF. Ähnliche Dimensionen sind für die (derzeit auf Eis gelegten) Projekte zur Überbauung des Zentralen Omnibusbahnhofs (ZOB), des Westkreuzes oder des Halenseegrabens ins Auge gefaßt. Entlang der Dovestraße, an der Kantstraße und am Goslaer Ufer entstehen Bürobauten mit 25.000 und 50.000 Quadratmetern BGF.

Trotzdem ermüden die Investoren nicht, die Notwendigkeit des Bauens mit dem Alptraum des Ostbooms herbeizureden. Das Wort von der „Verunsicherung“ oder der „Zweitklassigkeit des Bezirks“ macht die Runde, als seien bereits alle hochrangigen Gewerbebetriebe und Technologieunternehmen, Verwaltungs- und Kultureinrichtungen, Schlösser und Gärten in die Oststadt übergelaufen. Das Schreckgespenst des prosperierenden Ostens aber dient letztlich nur der Legitimation und Durchsetzung simpler kapitalistischer Interessen, nämlich gute City-Lagen endlich ins Hochhaus- und Spekulationsroulette miteinzubringen: ungeachtet bereits vorhandener Potentiale und Strukturen, ungeachtet eines „Büro- Bubble“ und ungeachtet der Klärung, ob ein dominanter Charlottenburger Bürostandort – übrigens ebenso wie monofunktionale Ostplanungen – die gesamte Stadtentwicklung aus den Angeln hebt.

Es geht um neue Dimensionen: Denn die jetzt vorbereitete Konzentration der Hochhaus-City- West am Bahnhof Zoo, Ernst- Reuter-Platz oder am Kurfürstendamm/Tauentzienstraße provoziert nicht nur den Teufelskreis von Zerstörung, Neubau, Verteuerung und Vertreibung, sondern ebenso die Überformung der bestehenden Stadtstruktur.

Hunger auf Repräsentanz wird hochgereizt

Die Baugenehmigungen für das elfgeschossige Hochhaus mit Himmelsflügel „Kantdreieck“ von Josef Paul Kleihues für die KapHag mit 8.054 Quadratmetern BFG sowie der 22stöckige High- Tech-Turm Richard Rogers für die Brau-und-Brunnen AG mit über 25.000 Quadratmetern BGF haben nicht nur den Grundstückswert und die Mieten der Umgebung erhöht. Ebenso haben sie den Hunger auf Repräsentanz mittels neuer Traufhöhen gereizt. „Wo die Ausnahme zur Regel wird“, schreibt Oliver Hamm in der Fachzeitschrift Foyer, „wo immer höhere Nutzungsziffern einen Dominoeffekt auslösen, droht die Tokioisierung der Stadt. Schließlich kann einem Investor nicht verwehrt werden, was dem anderen großzügig gewährt wurde.“

Der von Bausenator Wolfgang Nagel so apostrophierten „Einzelfallentscheidung“ im Falle des „Zoo-Fensters“ von Rogers – übrigens gegen die lokalen Interessen des Bezirks –, folgte Mitte November prompt die zweite „Einzelfallentscheidung“ Nagels: die Bebauung des „Victoria-Areals“ zwischen Kranzler-Eck am Ku'damm und der Kantstraße. Der unsägliche Entwurf des Architekten Helmut Jahn (Chicago) sieht vor, zwei Baukörper von rund 30 Meter Höhe zu errichten. Zusätzlich soll, vom Kurfürstendamm bis zur Kantstraße, ein 50 Meter hoher Querriegel als „transparente Skulptur“ entstehen. Der Clou des 43.000 Quadratmeter großen Bürobaus wird ein viergeschossiger Bügel, den Jahn als Aufbau über das Bilka-Gebäude bis zum Kranzler-Eck drückt.

Auch der Nachbarschaft blüht der Tokio-Effekt. Für das KLM- Gebäude Ecke Joachimstaler Straße und Ku'damm steht eine Aufstockung an. Für das Ku'damm-Eck des Berliner Architekten Werner Düttmann gibt es Abriß-Pläne, denen ein Turmbau folgen soll. Einen weiteren Mosaikstein im Areal um den Bahnhof Zoo bildet das 13geschossige IC-Hochhaus des Architekten Georg Ritschl parallel zur Stadtbahntrasse.

Die Gebäude fungieren, nicht mehr und nicht weniger, als „Brückenköpfe“ für eine ausufernde Überformung der historischen Baustruktur Charlottenburgs. Sie setzen Impulse für neue Investitionsschwerpunkte südlich der Hardenbergstraße und im Bereich des Ernst-Reuter-Platzes. Keinesfalls bedeuten die genannten Bauvorhaben Stadtreparaturen der städtebaulichen Vorstellungen der sechziger Jahre. Vielmehr sind es Fingerzeige modischer Allerweltsarchitektur, die der größtmöglichen Raumausnutzung unter einer polierten oder durchsichtigen Fassadenhaut huldigen.

Es wäre nötig, mit mehr Gelassenheit und Selbstsicherheit, die bezirklichen Interessen zu formulieren. Die Zeit drängt nicht, sie verlangsamt sich. „Abwarten“, meint auch Baudirektor Hans Stimmann. „Die Jahre, die die Mitte braucht, um sich vom Baulärm zu befreien, sollte die City West benutzen, die vorhandenen Qualitäten eines belebten und bewohnten Stadtquartiers zu pflegen und nicht zu verspielen.“