Die Bauform der Erinnerung

Vertraute Form und versiegelter Lebensraum: Rachel Whiteread hat den begehrten Turner-Preis erhalten – trotz oder gerade wegen ihrer jüngsten Außen-Skulptur „House“ im Osten Londons?  ■ Von Friedrich Meschede

Die Verleihung des mit rund 50.000 DM dotierten britischen Turner-Preises an die 30jährige Bildhauerin Rachel Whiteread war zu erwarten – und trotzdem ein Ereignis. Hatten die englischen Zeitungen schon im Vorfeld ihre Außenskulptur „Ghost“, ein vollständig abgegossenes Haus an der Londoner Grove Road, als lebensnahes Kunstwerk überschwenglich gelobt, so stand die Jury doch vor einem Problem. Immerhin galt es, den renommierten Preis einer Künstlerin zuzusprechen, die innerhalb von gerade einmal zwei Jahren zur bedeutendsten zeitgenössischen Bildhauerin in Großbritannien aufgestiegen ist. Was die Qualität der Arbeit betrifft, ist das Urteil des Fachpublikums ausnahmsweise einstimmig: Selten ist Kunst im öffentlichen Raum so nachdrücklich politisch und doch formal unangreifbar gestaltet worden. hf

An der Grove Road im Osten Londons ist derzeit ein ungewöhnliches Haus zu sehen, das die englische Bildhauerin Rachel Whiteread gebaut hat. Ihre Arbeit hatte die Künstlerin bereits im Spätsommer dieses Jahres realisiert. Seitdem erregt die Betonplastik Aufmerksamkeit bei Anwohnern, Unbeteiligten und der Presse gleichermaßen. Denn bis 1990 standen an der Grove Road die für England charakteristischen Siedlungshäuser, in denen fast jeder Engländer irgendwann einmal wohnt oder die ihm zumindest ihrer Struktur nach vertraut sind.

Seit 1990 nun entsteht hier ein Park. Eines der letzten verbliebenen Häuser stand Rachel Whiteread zur Verfügung, um ihre Idee einer kompakten Skulptur umzusetzen. Sie hat das gesamte Haus von innen her mit Beton ausgegossen. Anschließend wurden die alten Außenwände abgetragen, so daß der Kern des Gebäudes jetzt als Abdruck und Bild zugleich erscheint. Die leeren Zimmer sind nur noch als Volumen sichtbar: Wie massige Blöcke erscheinen die einzelnen Etagen aufeinandergeschichtet, die spezifischen Indizien der Zimmer wie Fenster, Türen und Kamine zeichnen sich als plastische Formen reliefartig ab. Zugleich strukturieren sie die durch das Gußverfahren vereinheitlichten Elemente der Architektur. Das Haus diente also quasi als Vorform für eine Plastik, die nicht wenige Kontroversen ausgelöst hat: „House“ ist über seinen Beitrag zur Kunst im öffentlichen Raum hinaus auch eine zeitgenössische Form der Infragestellung des Denkmalgedankens.

Zunächst hat Rachel Whiteread mit der breiten Öffentlichkeit, in der dieses Kunstwerk diskutiert wird, die Bannmeile der etablierten Kunstkritik durchbrochen – mit dem Ergebnis, daß aufgrund landesweiter Presseberichte das Haus an der Grove Road von Hunderten täglich staunend besucht und diskutiert wird. Jeder erkennt in der Form sein Haus, weil ihm der Typus dieser Bauform vertraut ist. Jeder erinnert sich gerade aufgrund der verschlossenen, undurchdringbaren Formen an Momente, die er in so einem Haus verbracht oder gelebt hat.

Das Haus stellt einen bautechnischen Standard dar, der nichts an kunsthistorischen Inhalten vorenthält; dennoch ist diese Erscheinungsform verfremdet. Obwohl die Zimmer und architektonischen Elemente den Besuchern im Maßstab 1:1 gegenüberstehen, sind sie nicht zugänglich, Einblicke nicht möglich und offene Räume nicht zugelassen.

Das eigentlich Vertraute erscheint als Geheimnis, das Begehbare ist umgeformt in undurchdringbare Masse, die aufgrund ihres am Menschen orientierten Maßstabs aber nicht monumental wird. Alle Details, wie Türgriffe und Fenster beispielsweise, sind zu einem Relief erstarrt, das das Vertraute als fremdes Bild erscheinen läßt.

Im landschaftlichen Ambiente der Grove Road, an deren westlicher Seite der Park entsteht und teilweise durch Erdaufschüttungen bereits realisiert ist, wirkt die Plastik „House“ wie ein nahbares Denkmal, das an die Tradition englischer Arbeitersiedlungen erinnert. Der Ostteil Londons war beziehungsweise ist nach wie vor Wohnort einkommensschwacher Gesellschaftsschichten, denen ein Park geboten werden soll – um den Preis allerdings, daß Wohnungen und Häuser weichen mußten. Charles Dickens hat dieser Schicht schon im 19. Jahrhundert ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Plastik Rachel Whitereads wird in der Rezeption der Besucher nun unvermittelt zu einem anderen, bildnerischen Denkmal für die Geschichte dieser Gegend, das Haus zum Ausdruck eines verschwindenden sozialen Modells, das einzig im Kunstwerk noch übrigbleibt und erhalten ist.

Das Innere des Gebäudes wird im Gußverfahren plötzlich sichtbar und das Private damit öffentlich. Die Geschichten und Erinnerungen, die jeder an seinen privaten Lebensraum gebunden hat, sie wirken wie versiegelt und eingeschlossen in dieser Skulptur.

Friedrich Meschede, Projektleiter im Bereich Bildende Kunst beim Deutschen Akademischen Austauschdienst, hat Rachel Whiteread während ihres einjährigen Gastaufenthalts beim DAAD in Berlin betreut.