■ Schriften zu Zeitschriften: Hannah und ihre Schwestern
Es ist schwer zu verstehen, warum die amerikanische Rechtsphilosophin Judith N. Shklar sich hierzulande nicht als die politische Denkerin der Stunde durchgesetzt hat. Otto Kallscheuer macht jetzt im ausgezeichneten November-Heft der Schweizer Kulturzeitschrift du über „Denkerinnen“ Werbung für Shklar, die im vergangenen Jahr verstorben ist. Shklar hat, vor allem in ihrer Studie „Über Ungerechtigkeit“, gefordert, daß die politische Philosophie dem „Sinn für Ungerechtigkeit“ einen systematischen Ort einräumen müsse. Die Forderung müßte bei den Intellektuellen eines Landes, dessen Bürger sich seit mehr als vier Jahren fragen, wer sich von wem weshalb und in welchem Maße verraten und verkauft fühlen darf, eigentlich einige Aufmerksamkeit erregen.
Die Philosophen haben das Unrechtsempfinden immer nur als Ausdruck eines Mangels beschrieben, als eine mehr oder weniger angemessene Reaktion auf Mißstände, die mit deren Beseitigung auch verschwinden müsse. Nach Judith Shklar ist das ein entscheidendes bißchen zu kurz gedacht: Auch in der relativ besten aller Welten, in der sich alle redlich bemühen, die „Kosten der Freiheit“ zu minimieren, muß irgendwer am Ende doch die Zeche zahlen. Und da ist es dann letztlich einfach Pech, Unglück (aber so ist das Leben), ein Kali-Kumpel in Bischofferode und nicht in Rheinhausen zu sein. Basta!
Shklar hat nun nicht etwa Vorschläge für eine arkadische Ordnung anzubieten, in der die ewige Nörgelei ein Ende hat. Sie glaubt allerdings, daß die Philosophen sich wesentliche Einsichten verschlossen haben, indem sie sich der Konstruktion von Gesellschaftsmodellen verschrieben, in denen die Bürger keinen Grund mehr haben, sich zu beschweren. Shklar fordert nichts weniger als einen Perspektivenwechsel: „Keine Vorstellung davon zu haben, was es heißt, ungerecht behandelt zu werden, bedeutet, über keinerlei moralisches Wissen zu verfügen.“ Der „Sinn für Ungerechtigkeit“, der sich als moralische Empörung und politischer Protest, aber auch als pessimistische Kulturkritik und privates Jammern äußern kann, ist nach Shklar endlich als moralische Produktivkraft zu begreifen. Die Demokratie ist eine Gesellschaft der Nörgler. Ein Opfer zu sein, ist alles andere als eine privilegierte Perspektive; zu den Erniedrigten und Beleidigten zu gehören, ist keine Garantie für politische Klugheit. Aber eine Demokratie, die ihren Namen verdient, bringt, wie Judith Shklar sagt, „jedenfalls die Stimmen derer, die sich eines Rechts beraubt sehen, nicht zum Schweigen“. Warum nur, kann man sich dann allerdings fragen, ist es im neuen Deutschland, in dem so viele gute Gründe haben, sich zu beklagen, so verdammt ruhig?
Otto Kallscheuer zollt in seinem Essay auch der Frage Tribut, die alle Beiträge des Hefts verbindet. Ist Judith Shklars Präferenz für den Blickwinkel der Opfer „spezifisch weiblich“? Die Antwort fällt so vorsichtig aus, wie es sich wohl auch Shklar gewünscht hätte: „Es entspricht eher den überwiegenden Erfahrungen von Frauen in der bisherigen Geschichte des Politischen, vom Zentrum der Legitimation ausgeschlossen zu sein und darum weniger über die Codes der kulturell Herrschenden zu verfügen, die ihnen auch eine Rationalisierung der Kosten von Herrschaft und Ordnung erlauben könnten.“ Daß die Weiblichkeit des Denkens aber nicht besagt, daß es Männer nichts angeht, beweist schon Kallscheuers instruktive Hommage aufs schönste.
Einer der prominentesten Denkerinnen des Jahrhunderts, Hannah Arendt, ist es umgekehrt ergangen. Feministinnen glaubten, daß Arendts politisches Denken sie nichts angehe: Man entlarvte sie als male thinker oder wies ihr zumindest gender blindness nach. Ursula Ludz, die Arendts Schriften aus dem Nachlass herausgegeben hat, kann aufgrund von bislang unveröffentlichten Briefen zeigen, daß Arendt zwar eine ziemlich geringe Meinung von Simone de Beauvoir hatte, aber keine Anti-Feministin war. Sie war der Beauvoir im Jahre 1947 begegnet und hielt sie offenbar für „not very bright“. Sie hat später ihr Buch „The Second Sex“ („Das andere Geschlecht“) gelesen, lehnte es aber ab, eine Besprechung zu schreiben: „Bei einer Betrachtung des Sex wären zwei Gnadenmittel vonnöten: Sinn für Humor und eine ehrfürchtige Scheu vor der Liebe. Abhandlungen, die sich jenseits von Liebe und Humor bewegen, haben eine Tendenz, schlicht lächerlich zu werden.“ Womöglich bringt ihr dies noch zusätzliche Feindinnen ein; aber danach hat sich Hannah Arendt, eine große Unabhängige, der Karrierestrategien fremd waren, eben nie gerichtet. Die breite Anerkennung, die Hannah Arendt gerade von männlicher Seite zuteil wird, hat sicher mehr mit ihrer Unabhängigkeit als mit jener Korruption zu tun, der viele Kolleginnen sie verdächtigen.
In den Aufsätzen von Friederike Hassauer und Isolde Schaad, die die heutige Lage des Feminismus beschreiben, geht das Gespenst des „Backlash“ um. Das beeindruckende Panorama der Denkerinnen, das dieses Heft voller hervorragender Beiträge bietet – über die Ethnologinnen Margaret Mead (Cornelia Strasser) und Mary Douglas (Peter Pfrunder), die Historikerin Natalie Zemon Davis (Barbara Basting), die Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry (Patrizia Nanz), die Moralphilosophinnen Martha C. Nussbaum (Wolfgang Heuer) und Carol Gilligan (Andreas Kuhlmann) –, unterläuft allerdings diese Diagnose aufs erfreulichste. Jörg Lau
„du. Die Zeitschrift der Kultur.“, Heft Nr. 11, November 1993, 110 Seiten, 15 DM
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