■ Ganz Belgien war durch einen Generalstreik lahmgelegt: Wegweiser für Europa
Die Belgier sind, was Löhne und Konsumverhalten angeht, in allen Gehaltsklassen Europas Unionsdurchschnitt. Personalberatungsfirmen empfehlen darum Unternehmern, ihren Blick auf das innerhalb der EU unauffälligste Land zu richten, wenn sie den EU-Gesamttrend erfassen wollen.
Die Zukunft der staatlichen Haushaltspolitik in der EU hat Belgien sogar schon vorweggenommen: Die Staatsverschuldung ist so hoch, daß die christdemokratisch-sozialistische Regierung keinen Handlungsspielraum mehr hat. Sie muß drastisch sparen, um in den nächsten Jahren überhaupt noch Reste ihres Sozialsystems finanzieren zu können. Ein Zustand, dem sich Deutschland als Folge der Schuldenpolitik der jetzigen Bundesregierung nach 1995 annähern wird.
Was die Gewerkschaften an den Sparplänen derart auf die Barrikaden treibt, ist allerdings ein belgisches Spezifikum: Die Löhne werden bislang automatisch an die Preise angepaßt – ein Mechanismus, der den Belgiern neben ihrem Haushaltsdefizit den Beitritt zur gemeinsamen Euro-Währung verwehren würde. Wenn dieser Lohn/Preis-Index nun wegfällt, müßten die belgischen Gewerkschaften (wie die deutschen) den Inflationsausgleich den Arbeitgebern abhandeln. Rezession, hohe Arbeitslosigkeit und der niedrige Organisationsgrad (20 Prozent) lassen das den Gewerkschaftsführern als unnötige Arbeitserschwernis erscheinen. Daß der Generalstreik dennoch möglich ist, hängt mit dem hohen Mobilisierungsgrad der Gewerkschaftsmitglieder und ihrer, durchaus im militanten Sinne, Schlagkraft zusammen.
Dabei ist der Kurs der belgischen Regierung trotz des nahen Staatsbankrotts um Fairneß gegenüber den Ärmsten der Bevölkerung bemüht. Zwar werden Leistungen gekürzt, aber auch alle Löhne und Gehälter eingefroren und die Steuern für alle erhöht. Die Gerechtigkeitslücke gegenüber den Vermögensbesitzern wird durch höhere Steuern auf Zinserträge und Immobilienbesitz geschlossen. Und trotz der Krise zahlt der Staat Zuschüsse zu den Lohnnebenkosten bei Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen. Sozialdemokraten würden das Programm vermutlich begeistert für die Bundesrepublik übernehmen, Gewerkschafter hierzulande es als erträglichen Kompromiß betrachten. Denn auch ein vergleichsweise ausgewogenes Sparprogramm trifft automatisch die Armen härter als die Großverdiener.
Richtige Gemeinheiten hält die Regierung für Raucher und Alkoholiker bereit, weil ihre Suchtmittel verteuert werden. Der Aufschrei der Massen erklärt sich eher mit den höheren Preisen für einen anderen Stoff: Benzin fürs Auto. Donata Riedel
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