: Das landlose Brasilien darf jubeln
Präsident Franco enteignet achtzehn Latifundien und verteilt das Land an über 2.000 landlose Familien / Reaktion auf spontane Besetzungen / Großgrundbesitzer sind verärgert ■ Aus Rio Astrid Prange
Aus „sozialen Gründen“ hat Brasiliens Präsident Itamar Franco am Donnerstag 18 landwirtschaftliche Betriebe, genannt „Fazendas“, per Dekret enteignet. Die insgesamt 95.282 Hektar Land in zehn verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten sollen an 2.200 landlose Familien verteilt werden. Als rechtliche Grundlage für die Enteignung dient dabei ein im Februar vom Parlament verabschiedetes Agrarreformgesetz.
Die Unterzeichnung der Enteignungsdekrete ist ein Triumph der brasilianischen Landlosen-Bewegung Sem Terra. Rund 2.000 Familien, die im Bundesstaat São Paulo seit geraumer Zeit eine „Fazenda“ besetzt hielten, wurden in der vergangenen Woche von der Polizei mit Gewalt zum Abzug gezwungen. Um die sich abzeichnende Eskalation zu vermeiden, schloß Präsident Franco das Streitobjekt mit in die Enteignungspläne ein. Nach Angaben des brasilianischen Instituts für Kolonisation und Agrarreform (Incra) sollen auf der 5.400 Hektar großen „Fazenda Jangada“ 400 Familien angesiedelt werden.
Während Großgrundbesitzer- Vertreter Carlos Souli Amaral den Entschluß Itamar Francos als „Akt wider den gesunden Menschenverstand“ kritisierte, feierten die Landlosen ihren Sieg. „Die Fazenda gehört den Arbeitern. Von jetzt an muß uns die Polizei beschützen“, stellte Sem-Terra-Vertreter Antonio Werneck klar.
Nach dem neuen brasilianischen Agrarreformgesetz, das erstmals eine rechtliche Handhabe für Enteignungen geschaffen hat, muß ein Landwirtschaftsbetrieb sowohl „produktiv“ sein als auch eine „soziale Funktion“ erfüllen. Bisher konnten Großgrundbesitzer einer Enteignung entgehen, indem sie auf ihren Latifundien Rinder weiden ließen oder schlicht auf Pläne zur Rodung von Waldflächen für die landwirtschaftliche Nutzung verwiesen.
Künftig gelten nur noch Latifundien als „produktiv“, deren Nutzfläche bis zu 80 Prozent bewirtschaftet wird. Zur „sozialen Funktion“ einer Fazenda gehören unter anderem auch die Einhaltung der Arbeitnehmerrechte. Sklavenähnliche Beschäftigungsverhältnisse, die besonders im Norden und Nordosten von Brasilien noch häufig vorkommen, können somit zur Beschlagnahme des Betriebs führen. „Diese Regelung macht der Unberührbarkeit sogenannter produktiver Ländereien ein Ende“, erklärt Pedro Tonelli, Abgeordneter der Arbeiterpartei, die den Entwurf zum Agrarreformgesetz ins Parlament eingebracht hatte.
Die Enteignung der Latifundien sowie die Ansiedlung von landlosen Familien kann sich nach Angaben des „Incra“-Vorsitzenden Osvaldo Russo noch über mehrere Monate hinziehen. „Die enteigneten Großgrundbesitzer können zwar vor Gericht ziehen und den Prozeß hinauszögern, nicht jedoch verhindern“, erklärt Russo. Die brasilianische Regierung würde die Großgrundbesitzer entschädigen und nach Ende des Rechtsstreites die neuen Besitzerurkunden ausstellen.
Nach Angaben der Landpastoralkommission CPT wurden von 1980 bis 1992 in Brasilien 1.189 Landarbeiter und Gewerkschafter ermordet. Dabei besteht in Brasilien an landwirtschaftlichen Flächen kein Mangel: Ein Drittel des landwirtschaftlichen Privatbesitzes liegt brach. Nach Angaben des brasilianischen Statistikamtes kontrollieren 1,2 Prozent der Landbesitzer die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Die Landreform in Brasilien bestand bis jetzt hauptsächlich aus Versprechungen. Ex-Präsident Fernando Collor kündigte bei seinem Amtsantritt im März 1990 großspurig an, er werde 400.000 Familien mit Land versorgen. In Wirklichkeit kamen gerade 14.000 Familien in den Genuß einer Besitzerurkunde. Brasiliens jetziger Agrarminister Dejandir Dalpasquale ist zuversichtlich, daß es der Regierung aufgrund des neuen Agrargesetzes gelingen wird, bis Ende 1994 etwa 20.000 Familien anzusiedeln.
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